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„Bisher nichts investiert“: Aussage von AfD-Chef Chrupalla zu Sondervermögen der Bundeswehr ist falsch
AfD-Vorsitzender Tino Chrupalla behauptet im ZDF, vom 100 Milliarden Euro schweren Sondervermögen sei noch nichts in die Bundeswehr investiert worden. Doch laut Verteidigungsministerium ist fast das gesamte Geld gebunden. von Paulina Thom Am 26. Oktober war der Co-Vorsitzende der AfD-Fraktion, Tino Chrupalla, zu Gast beim ZDF. Thema der Sendung „Berlin Direkt“ war unter anderem die außen- und verteidigungspolitische Linie der Partei. Die AfD-Fraktion teilte einen etwa zweiminütigen Ausschnitt des Interviews auf ihren Social-Media-Kanälen, die Clips haben teils hunderttausende Aufrufe und zehntausende Likes. Neben vielen Meinungsäußerungen fällt darin ein Satz, der stutzig macht. Über das 2022 beschlossene 100 Milliarden Euro schwere Sondervermögen für die Bundeswehr sagt der AfD-Politiker: „Bislang ist kein einziger Pfennig in die Bundeswehr investiert worden aus diesem Sondervermögen.“ Damit liegt Chrupalla falsch. Ende 2024 meldete das Beschaffungsamt der Bundeswehr, dass die 100 Milliarden Euro aus dem Sondervermögen „praktisch vollständig in Verträge mit der wehrtechnischen Industrie gebunden“ seien. Das Sondervermögen war nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine von Ex-Bundeskanzler Olaf Scholz bei seiner „Zeitenwende-Rede“ angekündigt worden. Im Juli 2022 wurde das Gesetz zum Sondervermögen beschlossen, es darf demnach nur für Rüstungsvorhaben verwendet werden. Eine offizielle Liste zu den Investitionen aus dem Sondervermögen veröffentlicht das Verteidigungsministerium nicht – auch nicht auf unsere Nachfrage. Eine Sprecherin schreibt uns: „Das Sondervermögen Bundeswehr ist aktuell zu rund 87 Prozent gebunden. Die noch offenen rund 13 Milliarden Euro werden schnellstmöglich für weitere, bereits geplante anstehende Vertragsabschlüsse verwendet. Das Sondervermögen Bundeswehr ist also zu 100 Prozent verplant.“ Das Ministerium gehe davon aus, dass das Sondervermögen im Jahr 2027 nahezu vollständig verausgabt sein werde. Ein Faktor für den zeitlichen Aufwand: Kostet eine Beschaffung mehr als 25 Millionen Euro, muss sie vom Haushaltsausschuss des Bundestags gebilligt werden – das legt Paragraph 5 des Gesetzes fest. Recherchen des MDR von Januar 2025 zeigen: Fast die Hälfte des Sondervermögens wurde für Geräte, Waffensysteme und Raketen ausgegeben, darunter etwa 10 Milliarden Euro für F-35 Kampfjets sowie fast 7 Milliarden Euro für Chinook-Transporthubschrauber. Weitere fünf Milliarden flossen zudem in Ausrüstungsgegenstände, wie Kleidung, Geländewagen oder Funkgeräte. Seit Januar 2025 genehmigte der Bundestag weitere Beschaffungen. Chrupalla reagierte bis zur Veröffentlichung nicht auf unsere Anfrage. Nicht alle Investitionen sind aber bei den Bundeswehrtruppen schon angekommen. Daran gab es in der Vergangenheit Kritik. 2023 bemängelte die damalige Wehrbeauftragte des Bundestags, Dr. Eva Högl (SPD), in einer Pressemitteilung zum Wehrbericht 2022 einen langsamen Beschaffungsprozess. Geld müsste schneller in Gerät, Material und persönliche Ausrüstung fließen. Im Interview mit dem Parlamentsfernsehen sagte sie: „Von den 100 Milliarden ist im Jahr 2022 noch gar kein Euro und Cent bei der Bundeswehr angekommen“. Das scheint nun aber nicht mehr der Fall zu sein, wie die Pressemitteilung zum Wehrbericht 2024 zeigt: „Deutliche Fortschritte brachte die Umsetzung der vorgezogenen Vollausstattung bei der persönlichen Ausrüstung der Soldatinnen und Soldaten, insbesondere bei Schutzwesten und Helmen.“ Die Fortschritte bei der Ausrüstung betont auch Vizeadmiral Carsten Stawitzki in einem Interview der Bundeswehr im Juni 2025. Er ist Abteilungsleiter für Rüstung im Verteidigungsministerium. Materialien seien ausgeliefert, die Beschaffung der Ausrüstung damit eine „Erfolgsgeschichte“, so Stawitzki. Bei anderen Beschaffungen dauert es länger: Die bestellten Geräte und Waffen, wie die F-35 oder die Transporthubschrauber, stünden „nicht beim Rüstungs-Amazon in Regal“, sondern müssten erst produziert werden. Die Verzögerungen bei den Bestellungen erklärt Stawitzki mit einer nur schwach vorhandenen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie. Kapazitäten und Kompetenzen müssten daher erst wieder aufgebaut werden. Im ZDF-Interview ging es auch um Russland-Spionage-Vorwürfe einiger Politiker gegen die AfD. Gegenüber dem Handelsblatt sagte Thüringens Innenminister Georg Maier (SPD): „Schon seit geraumer Zeit beobachten wir mit zunehmender Sorge, dass die AfD das parlamentarische Fragerecht dazu missbraucht, gezielt unsere kritische Infrastruktur auszuforschen.“ Chrupalla bezeichnete solche Vorwürfe im ZDF-Interview als „Kampagne der CDU und SPD“. Über die Russland-Nähe der AfD hat CORRECTIV bereits 2023 ausführlich berichtet. Mehreren AfD-Politikern wurden in der Vergangenheit verdächtige Russland-Verbindungen vorgeworfen: Petr Bystron soll von dem russischen Desinformationsnetzwerk „Voice of Europe“ Geldzahlungen erhalten zu haben. Laut einer Recherche von T-Online soll er außerdem einen mutmaßlichen russischen Spion in den Bundestag gebracht haben. Auch gegen Maximilian Krah werden in dem Fall Ermittlungen geprüft, zudem soll ihn die US-Bundespolizei FBI zu möglichen Zahlen von russischer Seite befragt haben. Bystron und Krah bestreiten die Vorwürfe. Im Februar 2024 berichtete der Spiegel zudem über einen AfD-Mitarbeiter, der in Kontakt mit dem russischen Inlandsgeheimdienst FSB gestanden haben soll. Redigatur: Sara Pichireddu, Max Bernhard
Paulina Thom
Anders als der AfD-Politiker behauptet, ist bereits fast das gesamte Geld aus dem Sondervermögen in die Bundeswehr investiert worden.
[ "Faktencheck", "Militär", "Politik" ]
Militär
2025-10-31T16:02:31+01:00
2025-10-31T16:02:31+01:00
2025-10-31T16:02:31+01:00
Aus dem 2022 beschlossenen Sondervermögen sei bislang nichts in die Bundeswehr investiert worden.
AfD-Politiker Tino Chrupalla
2025-10-26 00:00:00
https://www.facebook.com/reel/1928260078039099/
Falsch
Falsch. Fast das gesamte Sondervermögen von 100 Milliarden Euro ist laut Beschaffungsamt der Bundeswehr und Verteidigungsministerium in Verträgen gebunden, mehrere Vorhaben seien vollumfänglich finanziert. Die größten Posten sind teure Geräte, Waffensysteme und Raketen.
https://correctiv.org/faktencheck/2025/10/31/bisher-nichts-investiert-aussage-von-afd-chef-chrupalla-zu-sondervermoegen-der-bundeswehr-ist-falsch/
Frieren im Winter: Video von angeblicher Grünen-Politikerin ist KI-generiert
Ein Video auf Facebook soll eine Grünen-Politikerin bei Markus Lanz zeigen, die fordert, dass Menschen einen Winter lang frieren müssten, wenn sie eine Nachzahlung beim Heizgeld bekämen. Das Video ist mit KI erstellt, die Frau existiert nicht. von Matthias Bau In den Sozialen Netzwerken werden derzeit KI-generierte Videos genutzt, um Desinformation zu verbreiten und Stimmung zu machen. Zuletzt etwa mit einem Video auf Facebook. Darin ist eine Frau zu sehen, die sich so geäußert haben soll: „Wir von den Grünen sagen ganz klar: Wenn ich eine fette Nachzahlung beim Heizgeld bekomme, dann muss ich auch mal ’nen Winter lang frieren können. Das kann ja wohl nicht so schlimm sein“. Ursprünglich wurde in der Beschreibung des Videos suggeriert, dass es sich um einen Ausschnitt der ZDF-Talkshow „Markus Lanz“ handeln soll. Das Video erhielt 1.200 „Gefällt-mir“-Angaben, wurde rund 100.000 Mal angesehen und etwa 400 Mal geteilt. In den Kommentaren beschimpfen Nutzerinnen und Nutzer die Frau: „Typisch Grün. Hohl, doof und überflüssig“ oder „Dumm wie Brot“. Andere ergehen sich in Kommentaren über ihr Äußeres. Dass das Video eine Fälschung ist, bemerkt offenbar so gut wie niemand. Wir haben uns zunächst angesehen, ob das Video wirklich aus der ZDF-Talkshow Markus Lanz stammt. Bereits ein kurzer Vergleich mit der Studiokulisse zeigt, dass sie ganz anders aussieht, die Sendung läuft zudem seit 2022 ohne Publikum. Das Video der vermeintlichen Grünen-Politikerin kann dort also gar nicht entstanden sein. Ob die Frau überhaupt echt ist, steht darüber hinaus in Frage. Bilder-Rückwärtssuchen nach ihr führen zu keinen Ergebnissen. Bei einer Politikerin, die in einer bundesweit ausgestrahlten Talkshow auftritt, ist das sehr ungewöhnlich. Wenn der Ausschnitt aus einer echten Talkshow stammen würde, wäre zu erwarten, dass sich dafür irgendein Beleg finden lässt. Das ist nicht der Fall. Anzeichen, die noch vor einiger Zeit ganz typisch für KI-generierte Inhalte gewesen wären – etwa zu viele Finger oder plötzlich auftauchende Objekte – fehlen in dem Video. Ein Experte sieht dennoch Hinweise auf KI: Andreas Ingerl, Professor an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin für Audiovisuelle Medien, weist auf verschiedene Merkmale hin. Das grüne Shirt der Frau werfe im oberen Teil Schatten, „die sich nicht logisch zur Person bewegen“. Darüber hinaus sei der Ausschnitt asymmetrisch und bewege sich „mit, als ob er auf der Haut aufgeklebt ist und quasi den Stoff unnatürlich staucht/quetscht“. Ein weiteres Indiz sei, dass die Frau an keiner Stelle atme: „Eine Person, die recht laut und intensiv spricht, müsste bei einem Satz dieser Länge zumindest einmal sichtbar ein- oder ausatmen“, so Ingerl. Und ein weiterer Hinweis: Die Finger eines Zuschauers im Hintergrund seien zwar richtig ineinander gefaltet, „aber die Fingerlängen und grundsätzliche Anatomie der Hand“ stimmten nicht. Ein Blick auf das Profil namens „Mindhug-Comedy International“, wo das Video zuerst erschien, zeigt, dass der Account immer wieder Videos verbreitet, die Talkshow-Situationen zeigen sollen. Eines davon ist klar als KI-generiert zu erkennen. Einem Mann, der darin spricht, wächst beim Gestikulieren plötzlich ein weiterer Finger. Zunächst versah der Account seine Beiträge auf Facebook noch mit Schlagworten wie „Sora 2“ oder „Veo 3“. So heißen die KI-Video-Apps von Open AI und Google. Beide wurden in der Vergangenheit genutzt, um Desinformation zu verbreiten. Nach den ersten zehn Videos auf dem Account fehlen diese Schlagworte jedoch. Auffällig: Die Beiträge ohne entsprechende Kennzeichnung werden im Durchschnitt sehr viel häufiger angesehen. In der Profilbeschreibung sind weitere gleichnamige Accounts auf Youtube, Tiktok und Instagram verlinkt. Alle verbreiten laut Eigenbeschreibung angebliche Satire und lustige Memes. Dort veröffentlichen die Verantwortlichen neben den angeblichen Talkshow-Ausschnitten auch weitere Videos, häufig mit sexistischem und rassistischem Inhalt. Auf Tiktok kennzeichneten die Betreibenden einige ihrer Videos als KI-generiert, bei anderen fehlt diese Kennzeichnung. Das ist auch bei dem Video mit dem Mann der Fall, dem plötzlich ein weiterer Finger wächst. Laut den Richtlinien von Tiktok ist eine solche Kennzeichnung in derartigen Fällen jedoch verpflichtend. Auch Meta, der Konzern hinter Facebook und Instagram, fordert eine solche Kennzeichnung von Nutzerinnen und Nutzern. Wir haben den Account kontaktiert und zu dem Video mit der vermeintlichen Grünen-Politikerin befragt. Als Antwort schrieb man uns: „Das genannte Video wurde vollständig mit KI erstellt“ und sei auch als solches gekennzeichnet. Doch auf Facebook fehlt ein entsprechender Hinweis. Nach unserer Anfrage löschte der Account aus der Videobeschreibung den Hinweis, dass es dabei um eine Lanz-Sendung gehe. Die Verantwortlichen bestätigten außerdem, dass es sich bei der Frau nicht um eine echte Person handele. Wir wollten darüber hinaus wissen, ob sich die Account-Betreibenden bewusst sind, dass einige der Videos zu Hass und Hetze führen. Der Account antwortete lediglich: „Unser Ziel ist nicht, Zuschauer zu täuschen, sondern KI-Inhalte unterhaltend und satirisch zu präsentieren. Dass manche Nutzerinnen und Nutzer das dennoch missverstehen, bedauern wir selbstverständlich.“ Meta antwortete auf unsere Nachfrage, weshalb die ungekennzeichneten KI-Inhalte auf Facebook verfügbar sind, lediglich, dass man die entsprechenden Links überprüfen werde. Auf unsere Fragen ging die Sprecherin des Konzerns nicht weiter ein. Von Tiktok erhielten wir bis zur Veröffentlichung dieses Faktenchecks keine Antwort. Transparenzhinweis: CORRECTIV ist seit 2017 in einer Kooperation mit dem Facebook-Konzern Meta, um Desinformation auf dem Sozialen Netzwerk zu bekämpfen. Mehr Informationen zu der Kooperation erhalten Sie hier. Redigatur: Sara Pichireddu, Gabriele Scherndl
Matthias Bau
Ein Account verbreitet in Sozialen Netzwerken immer wieder KI-generierte Videos. Angeblich als Satire. Eines sorgt für Hass und Hetze.
[ "Faktencheck", "Politik" ]
Politik
2025-10-29T14:27:07+01:00
2025-10-29T14:27:07+01:00
2025-10-29T14:27:07+01:00
Ein Video zeige, wie eine Politikerin der Grünen in einer Talkshow sagt: „Wir von den Grünen sagen: Wenn ich eine fette Nachzahlung beim Heizgeld bekomme, dann muss ich auch mal nen Winter lang frieren können.“
Beitrag auf Facebook
2025-10-18 00:00:00
Manipuliert
Manipuliert. Das Video wurde mit Hilfe von KI erstellt. Das sagen ein Experte und der Verbreiter des Videos selbst.
https://correctiv.org/faktencheck/2025/10/29/frieren-im-winter-video-von-angeblicher-gruenen-politikerin-ist-ki-generiert/
Kein Auto nach 22 Uhr? Angebliches Fahrverbot ist erfunden
Anders als auf Tiktok behauptet, gibt es ab Dezember kein nächtliches Fahrverbot in Deutschland. Ein vermeintliches Zitat von Friedrich Merz dazu ist erfunden. Hinter der Falschbehauptung steckt eine bekannte Masche. von Matthias Bau In mehreren Videos auf Tiktok heißt es seit dem 14. Oktober, dass es in Deutschland ab Dezember ein Nachtfahrverbot für alle privaten Fahrzeuge geben soll. Wer gegen das Verbot verstoße, müsse mit einer Strafe von 250 Euro und „Punkten in Flensburg“ rechnen. Angeblich, so heißt es weiter, habe Bundeskanzler Friedrich Merz das Verbot mit dem Satz begründet, „nachts muss niemand mehr spazierenfahren oder bestellen“. Nichts davon stimmt. Dennoch erhielten die Videos auf Tiktok zusammengenommen über 900.000 Aufrufe. Teils nahmen Nutzerinnen und Nutzer die Videos mit Humor, andere reagierten verärgert. So reichen die Kommentare von „das ist der beste Witz den ich je hörte“ über „also dann kann er meine Nachtschicht übernehmen“ bis „den Kanzler 2. Wahl sollte man verbieten.“ Wir haben zunächst nach einem Beleg für das angebliche Zitate von Friedrich Merz gesucht, doch weder eine Google-Suche, noch eine Suche in der Pressedatenbank Genios oder in den Reden des Kanzlers lieferte einen Beleg dafür, dass er sich so geäußert hätte. Auf Anfrage teilte uns eine Regierungssprecherin mit, dass die Bundesregierung „keine generellen Nachtfahrverbote einführen“ werde. Weiter schreibt sie „es werden auch keine vergleichbaren gesetzlichen Regelungen diskutiert. Diese Posts haben zum Ziel, die Leserschaft auf Grundlage falscher Tatsachenbehauptungen zu verunsichern.“ Fahrverbote sind in Deutschland über die Straßenverkehrsordnung geregelt. Darin heißt es in Paragraph 30, dass LKW an Sonn- und Feiertagen zwischen 0:00 und 22:00 Uhr nicht verkehren dürfen. Ausnahmen gibt es aber zum Beispiel, wenn LKW frisches Fleisch, frischen Fisch, Milch oder leicht verderbliches Obst oder Gemüse transportieren. Darüber hinaus kann der Verkehr auf Grund des Bundes-Immissionsschutzgesetzes eingeschränkt werden, zum Beispiel wenn Grenzwerte bei Stickstoff oder Feinstaub überschritten werden. In manchen Städten wie München oder Stuttgart gibt es deswegen zum Beispiel Fahrverbote für ältere Dieselfahrzeuge. Dass Tiktok-Videos versuchen, mit angeblichen Gesetztesvorhaben von Merz Reichweite zu erzeugen, ist nicht neu. Wir berichteten mehrfach darüber. Manche der Tiktok-Kanäle verbreiteten die Falschbehauptungen unter dem Deckmantel der Satire. Aber um Satire ging es augenscheinlich nicht – die Videos sind nachrichtlich gestaltet und sollen mit falschen Behauptungen Klicks generieren. Redigatur: Steffen Kutzner, Max Bernhard
Matthias Bau
Auf Tiktok verbreiten sich zahlreiche Videos, in denen es heißt, ab Dezember gebe es ein Nachtfahrverbot. Das ist frei erfunden.
[ "Faktencheck", "Politik" ]
Politik
2025-10-27T16:18:54+01:00
2025-10-27T16:18:54+01:00
2025-11-07T11:06:31+01:00
Ab Dezember gelte in Deutschland ein nächtliches Autofahrverbot. Zwischen 22 und 5 Uhr dürften keine privaten Fahrzeuge mehr unterwegs sein. Friedrich Merz habe das mit Energieeinsparungen, Sicherheit und Lärmschutz begründet. Wer gegen das Verbot verstoße, müsse 250 Euro zahlen und bekomme Punkte in Flensburg.
Beiträgen auf Tiktok
2025-10-14 00:00:00
https://www.tiktok.com/@user4187663655214/video/7560977162677898518
Falsch
Falsch. Auf Anfrage bestätigte uns eine Regierungssprecherin, dass ein solches Verbot nicht geplant ist. Für das vermeintliche Zitat von Friedrich Merz gibt es keine Belege.
https://correctiv.org/faktencheck/2025/10/27/kein-auto-nach-22-uhr-angebliches-fahrverbot-ist-erfunden/
Nein, in Island verlieren Politiker nicht automatisch ihr Amt, wenn sie lügen
Angeblich drohe lügenden Politikerinnen und Politikern in Island ein „sofortiger Amtsverlust“. Obwohl online von vielen als „Fakt“ präsentiert, gibt es laut isländischem Justizministerium und Experten keine solche offizielle Regelung. von Paulina Thom „Gäbe es das in Deutschland auch, wäre die Regierung erledigt“, heißt es in einem X-Post über eine angebliche Regelung in Island: Dort soll Politikerinnen und Politikern das Lügen untersagt sein, ansonsten drohe ihnen „sofortiger Amtsverlust“. Auch auf Threads kursiert das Sharepic mit der Behauptung und hat dort, wie auch auf X, tausende Likes. Einige der Beiträge enthalten das Logo eines Kanals namens „Wisswas“, der die Behauptung als „Fakt“ auf Tiktok veröffentlichte. Doch gibt es eine solche Regelung in Island wirklich? Wie Þórdís Valsdóttir, Informationsbeauftragter des isländischen Justizministeriums, auf Nachfrage von CORRECTIV.Faktencheck erklärt, gibt es mehrere „rechtliche, weiche und ethische Bestimmungen“, die in bestimmten Kontexten eine „Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit“ begründen – insbesondere wenn Ministerinnen und Minister oder Parlamentsabgeordnete in ihrer offiziellen Funktion handelten. „Allerdings gibt es in Island kein spezifisches Gesetz, das ausdrücklich vorsieht, dass Politiker ihres Amtes enthoben werden müssen, wenn sie bei einer Lüge ertappt werden“, so Valsdóttir. Das bestätigt ein Sprecher des isländischen Parlaments. Auch Eva Heiða Önnudóttir, Politikwissenschaftlerin an der Universität von Island, sagt uns gegenüber, dass es keine solche Regelung in Island gebe. Sie vermutet, das Gerücht könnte von neuen ethischen Regeln herrühren, die 2025 verabschiedet wurden: „Die ethischen Regeln besagen unter anderem, dass Minister im Sinne von Transparenz, Wahrhaftigkeit, Verantwortung und Integrität handeln sollten (‚Ráðherra starfar í anda gagnsæis, sannsögli, ábyrgðar og heilinda.‘)“, schreibt Önnudóttir. Falls jemand glaube, dass ein Minister dagegen verstoßen habe, könne man sich an die Ombudsperson des Parlaments wenden, die diese ethischen Regeln sicherstellen soll. Die Schlussfolgerung der Ombudsperson würden vom Parlament diskutiert. Grundsätzlich könne das Parlament eine Abstimmung über einen Misstrauensantrag beantragen. Ein solcher Misstrauensantrag gegen einen Minister oder die Regierung sei aber erst einmal erfolgreich gewesen und zwar 1950. „Es gibt also keine Strafe, wie die sofortige Amtsenthebung, wenn ein Minister bei einer Lüge erwischt wird“, erklärt die Politikwissenschaftlerin – auch nicht in den Gesetzen über die Verantwortung von Ministern („lög um ráðherraábyrgð“). Beim isländische Projekt „The Islandic Web of Science“, in dem Fragen aus der Gesellschaft vorrangig von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beantwortet werden, hat man von einer solchen Regelung ebenfalls noch nie gehört. Jón Gunnar Thorsteinsson, Chefredakteur des Projekts, schreibt uns, Politikerinnen und Politiker müssten nach Artikel 47 der isländischen Verfassung nach ihrer Wahl geloben, dass sie die Verfassung aufrechterhalten werden. Er mutmaßt, dass das Gerücht daher kommen könne, denn das Gelöbnis („drengskaparheit“) habe auch eine juristische Definition: Es werde auch für die Bestätigung der Aussage eines Zeugen vor Gericht verwendet. Die Behauptung auf dem Sharepic sei aber nicht richtig, so Thorsteinsson. Nach Artikel 56 und Artikel 64 des Grundgesetzes leisten auch in Deutschland einige Amtsträgerinnen und Amtsträger einen Eid auf die Verfassung: Dazu gehören die Bundeskanzlerin oder der Bundeskanzler, die Bundespräsidentin oder der Bundespräsident und alle Ministerinnen und Minister. Dieser Amtseid hat wie auch in Island keine rechtliche Verbindlichkeit und bei Eidbruch daher auch keine Auswirkungen. Bundestagsabgeordnete leisten keinen Eid, was teils kritisiert wird. In einigen Bundesländern gibt es Sonderregelungen für die Landesparlamente: In Schleswig-Holstein werden die Abgeordneten durch Eid auf die Verfassung verpflichtet, in Nordrhein-Westfalen und Sachsen gibt es eine Verpflichtungserklärung der Abgeordneten. Redigatur: Steffen Kutzner, Gabriele Scherndl Update, 28. Oktober 2025: Wir haben eine Rückmeldung des isländischen Parlaments ergänzt, die uns nach Veröffentlichung erreichte.
Paulina Thom
Online heißt es, Politikern in Island, die lügen, drohe sofort der Amtsverlust. Eine offizielle Regelung ist das allerdings nicht.
[ "Faktencheck", "Politik" ]
Politik
2025-10-24T11:05:38+02:00
2025-10-24T11:05:38+02:00
2025-10-28T13:00:46+01:00
Politikerinnen und Politikern in Island dürften nicht lügen, ansonsten drohe ihnen „sofortiger Amtsverlust“.
Beiträgen in Sozialen Netzwerken
2025-06-10 00:00:00
https://www.tiktok.com/@wisswas0/photo/7558039834988711190
Größtenteils falsch
Größtenteils falsch. Es gibt laut Fachleuten kein Gesetz, das nach einer Lüge zum Amtsverlust führt. Laut isländischem Justizministerium gibt es aber mehrere rechtliche und ethische Bestimmungen zu einer „Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit“ in bestimmten Kontexten.
https://correctiv.org/faktencheck/2025/10/24/nein-in-island-verlieren-politiker-nicht-automatisch-ihr-amt-wenn-sie-luegen/
Merz’ Stadtbild-Aussage aus Mitschrift gestrichen: Was besagt das Neutralitätsgebot
Nachdem Merz sich abfällig über Migrantinnen und Migranten im „Stadtbild“ geäußert hatte, landete die umstrittene Passage nicht in der Mitschrift auf der Kanzler-Webseite. Laut Regierungssprecher ein normaler Vorgang und dem Neutralitätsgebot geschuldet. Ist das wirklich normal? von Gabriele Scherndl Als Bundeskanzler und CDU-Chef Friedrich Merz Mitte Oktober sagte, beim Thema Migration gebe es ein „Problem“ im Stadtbild, war die Aussage überall. Sie sei „respektlos“ und „blanker Rassismus“, hieß es aus der Opposition. Beim Koalitionspartner war von Populismus die Rede, Medien schrieben von einem „bewährten Kampfbegriff der AfD“ und Fachleute sahen Parallelen zum Nationalsozialismus. Doch an einer Stelle fehlte die Aussage komplett: In der offiziellen Mitschrift der Veranstaltung auf der Webseite des Bundeskanzlers. Dort sind in der Passage, wo es um das Stadtbild ging, nur drei Punkte in runden Klammern. Warum, wollte am Tag nach der Aussage ein Journalist von Stefan Kornelius, Regierungssprecher und Chef des Bundespresseamts, wissen. Der Bundeskanzler, so Kornelius, habe sich bei der Stadtbild-Aussage „klar als Parteivorsitzender zu erkennen gegeben“, wegen des Neutralitätsgebot sei diese parteipolitische Äußerung nicht veröffentlicht worden. „Das ist die übliche Praxis in solchen Fällen und keinerlei Neuigkeit“, sagt Kornelius. Tatsächlich betonte Merz bei seinem Antrittsbesuch in Brandenburg, kurz bevor er über das Stadtbild sprach, dass er sich nun „parteipolitisch“ äußere. Es folgten Aussagen über die AfD, Rechtspopulismus und CDU-Politik. Dass so eine Passage aus der Mitschrift gekürzt wird, ist jedoch nicht so selbstverständlich, wie Kornelius behauptet. Eine Datenauswertung von CORRECTIV.Faktencheck von allen Reden und Pressekonferenzen von Merz in seiner Amtszeit, die auf der Seite des Kanzlers veröffentlicht wurden, zeigt: Bisher wurde nur zwei weitere Male eine Stelle mit drei Punkten in der Mitschrift markiert (allerdings in eckigen, nicht, wie beim „Stadtbild“ in runden Klammern). Beide Male stehen die Punkte am Beginn eines Zitats, das Merz vorträgt: Einmal vom Philosophen Walter Benjamin und einmal aus Star Trek. In beiden Fällen markieren sie offenbar eine Auslassung im Zitat. Dass eine eigene Aussage von Merz oder eine ganze Antwort fehlen, ist jedoch – soweit nachvollziehbar – bislang einmalig und keineswegs übliche Praxis, wie Kornelius behauptete. Umgekehrt ist jedoch häufig in den Mitschriften zu lesen, dass sich Merz sowohl als CDU-Vorsitzender und gleichzeitig als Bundeskanzler äußert. Zum Beispiel, als er nicht wie kürzlich den SPD-Ministerpräsidenten Dietmar Woidke in Brandenburg zum Antritt besuchte, sondern bei einem Antrittsbesuch seines Fraktionskollegen Markus Söder in Bayern. Dort leitet er einen Satz ein mit: „Diese parteipolitische Bemerkung will ich mir erlauben“ und spricht dann von der guten Zusammenarbeit in der Union. Anfang Oktober leitete Merz in einer Pressekonferenz eine Passage über die „sehr, sehr gute, sehr kollegiale, sehr offene Arbeitsatmosphäre“ in der Koalition ein mit den Worten, das sage er als Kanzler und als Parteivorsitzender der CDU. Im Juli stellte eine Journalistin eine Frage explizit an den „Abgeordneten“ Merz. Frage und Antwort sind in der Mitschrift nachzulesen. Ein kurzer Blick auf die Zeiten vor Merz’ Amtsantritt: Auch Kanzler und Kanzlerin vor ihm haben sich in ihren weiteren Funktionen geäußert. So findet sich etwa auch eine Mitschrift von einer Aussage Olaf Scholz’ auf der Seite der Bundesregierung, in der er davon erzählt, wie er mit 17 in „meinen Freundeskreis, genannt die SPD,“ eingetreten sei. Von Angela Merkel ist dort auch eine Rede bei einem CDU-Festakt verschriftlicht, in der sie als CDU-Vorsitzende spricht. Das Neutralitätsgebot leitet sich aus dem Grundgesetz ab und wird durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts konkretisiert. Im Kern geht es darum, dass etwa ein Bundeskanzler durch sein Amt keine Ressourcen für Parteizwecke nutzen darf, die der Opposition nicht zur Verfügung stehen. Dazu gehört auch die Autorität des Postens als Bundeskanzler: Ein Kanzler darf keine parteipolitischen Äußerungen machen, auch nicht für die eigene Partei, weil die anderen Parteien keine Person in so hoher Machtposition haben und daher benachteiligt wären. Besonders bekannt ist ein Urteil gegen Angela Merkel, nachdem sie 2020 auf einer Pressekonferenz in Südafrika über die Wahl von Thomas Kemmerich (FPD) zum Ministerpräsidenten Thüringens gesprochen hatte. Für ihn hatten auch AfD-Abgeordnete gestimmt. Für Merkel ein „schlechter Tag für die Demokratie“. Gleich ein zweifacher Verstoß gegen das Neutralitätsgebot, entschied das Gericht: Erstens durch die Aussage an sich, zweitens dadurch, dass die Aussage auch auf den Internetseiten der Bundeskanzlerin und der Bundesregierung zu lesen war. In dem Urteil ist auch nachzulesen, unter welchen Bedingungen das Neutralitätsgebot besonders gilt. So mache es einen Unterschied, ob ein Regierungsmitglied auf einer Regierungsveranstaltung spricht oder im Rahmen einer Talkshow oder eines Interviews – bei letzterem brauche es eine „differenzierte Betrachtung“. Im Urteil steht auch: Merkel hätte darauf hinweisen können, dass sie „nicht in ihrer Eigenschaft als Bundeskanzlerin, sondern als Parteipolitikerin oder Privatperson äußern werde“. Für Joachim Wieland, Verfassungsrichter in Nordrhein-Westfalen, haben Merz und der Bundespressedienst im aktuellen Fall die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts erfüllt: Merz wies auf seine Funktion als CDU-Parteivorsitzender hin, gleichzeitig wurde die Webseite des Kanzleramts nicht zur Verbreitung genutzt. Wieland war unter anderem 2014 Prozessbevollmächtigter für den damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck in einem Prozess rund um das Neutralitätsgebot, in einem anderen Prozess war er Bevollmächtigter der damaligen Bundesfamilienministerin von der SPD. Für Vivian Kube, Rechtsanwältin mit Fokus auf Grund- und Menschenrechte, ist ebenfalls schlüssig, dass die Passage nicht in der Mitschrift zu finden ist. Sie sagt aber auch: Wird das Neutralitätsgebot so streng ausgelegt, dass die Aussage nicht im Transkript erscheinen soll, dann hätte Merz sie gar nicht erst bei einem Amtsbesuch tätigen sollen. So wirke es, als werde das Neutralitätsgebot im Nachhinein nur „vorgeschoben“. Worin Kube und Wieland sich einig sind: Dass die Vorgangsweise unter Merz als Kanzler uneinheitlich ist – das zeigen auch die oben genannten Beispiele. Das liege auch daran, dass das Neutralitätsgebot schwer umsetzbar sei. Wieland dazu: „Politiker tun sich schwer damit, klarzumachen, welchen Hut sie gerade aufhaben“. Kube sagt: „Man kann auch die bisherige Rechtsprechung als lebensfremd kritisieren. Das Kanzleramt ist kein neutrales Amt, alle wissen, dass der aktuelle Kanzler zur CDU gehört“. Paula Diehl, Professorin für Politische Theorie und Politische Kultur an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel ordnet die Debatte rund um die „Stadtbild“-Aussage nicht aus einer juristischen, sondern aus einer politiktheoretischen Perspektive ein. Den Begriff der Neutralität hält sie dabei für fehl am Platz. Merz sei Parteivorsitzender, Kanzler und Teil einer Koalition, daher sei es normal, dass er bei allem, was er sagt, auch als CDU-Repräsentant spreche, sagt auch sie. Relevant sei vielmehr, welche dieser Rollen er repräsentiert, wenn er spricht. In all seinen Rollen müsse er zu seiner Aussage stehen und diese rechtfertigen können. Deswegen gehöre sie auch in das Transkript. Dass die Aussage gestrichen wurde, verletzt nach Ansicht von Diehl das Prinzip der Accountability, also die Rechenschaftspflicht, die Politikerinnen und Politiker haben: „Die Bürgerinnen und Bürger haben ein Recht zu wissen, was die Regierenden tun und sagen, und die Öffentlichkeit kann nach Erklärungen verlangen“. CORRECTIV.Faktencheck kontaktierte das Bundespresseamt mit dem Vorwurf, das Vorgehen rund um die Stadtbild-Aussage wirke für Fachleute vorgeschoben, verstoße gegen die Rechenschaftspflicht und passe teils nicht zur bisherigen Praxis. Ein Sprecher schreibt: „Ob das Neutralitätsgebot relevant ist, muss in jedem Einzelfall geprüft werden. Wir überprüfen unsere Praxis dazu regelmäßig und passen sie gegebenenfalls an.“ Mitarbeit und Datenanalyse: Sara Pichireddu Redigatur: Steffen Kutzner, Paulina Thom
Gabriele Scherndl
Die umstrittene Aussage des Kanzlers landete nicht in der offiziellen Mitschrift. Ein normaler Vorgang, hieß es dann vom Regierungssprecher. Ist das so?
[ "Hintergrund", "Politik" ]
2025-10-23T11:19:17+02:00
2025-10-23T11:19:17+02:00
2025-11-04T01:31:53+01:00
https://correctiv.org/faktencheck/hintergrund/2025/10/23/merz-stadtbild-aussage-aus-mitschrift-gestrichen-was-besagt-das-neutralitaetsgebot/
„Wer ist dieser Typ?“: Viraler Trump-Beitrag über Merz ist nicht echt
In einem Beitrag soll US-Präsident Donald Trump ein Bild von Bundeskanzler Friedrich Merz mit den Worten „Wer zum Teufel ist dieser Typ?“ kommentiert haben. Aber der Screenshot, der das belegen soll, ist nicht echt. von Max Bernhard „Wer zum Teufel ist dieser Typ?“, mit diesen Worten soll US-Präsident Donald Trump angeblich ein Foto von Friedrich Merz kommentiert haben, das den Kanzler am 13. Oktober beim Gipfel zur Gaza-Waffenruhe in Ägypten zeigt. Das zumindest behaupteten Mitte Oktober Beiträge auf Facebook und X mit teils hunderttausenden Aufrufen. Belegen soll das ein Screenshot des angeblichen Beitrags. Aber dafür, dass Trump so einen Beitrag veröffentlicht hat, finden sich keine Belege. Ein Profil, das den angeblichen Screenshot veröffentlichte, erklärte später, dass es sich um einen Fake handelt. Das Bild von Merz passt zu einem Livestream des Youtube-Kanals „DWS News“ vom Gaza-Friedensgipfel in Ägypten am 13. Oktober. Im Screenshot des angeblichen Beitrags ist ein roter Haken zu erkennen. Das stimmt mit Donald Trumps Profil auf dessen Sozialem Netzwerk „Truth Social“ überein. Dort findet sich der angebliche Beitrag jedoch nicht. Auch in einem Online-Archiv von Trumps Beiträgen, das auch gelöschte Beiträge dokumentiert, taucht er nicht auf. In dem angeblichen Screenshot des Beitrags findet sich jedoch ein Hinweis auf einen möglichen Urheber: Auf dem Bild von Merz steht oben rechts „@DrLuetke“. Ein X-Account mit diesem Namen hatte das Bild am 14. Oktober geteilt und dann später in einem Kommentar erklärt, dass es sich um einen Fake handelt. Inzwischen wurden Beitrag und Kommentar gelöscht. Den Beitrag von Trump gab es also nie. Online gibt es mehrere Tools, mit denen sich Beiträge von Trump schnell fälschen lassen. Redigatur: Gabriele Scherndl, Paulina Thom
Max Bernhard
Donald Trump soll ein Bild von Friedrich Merz mit „Wer zum Teufel ist dieser Typ?“ kommentiert haben. Aber den Post von Trump gab es nie.
[ "Faktencheck", "Politik" ]
Politik
2025-10-22T13:15:31+02:00
2025-10-22T13:15:31+02:00
2025-10-22T13:15:31+02:00
In einem Beitrag auf Truth Social habe Donald Trump zu einem Foto von Friedrich Merz geschrieben „Wer zum Teufel ist dieser Typ?“.
Beiträgen auf X und Facebook
2025-10-14 00:00:00
Falsch
Falsch. Der angebliche Screenshot des Beitrags ist nicht echt. Das Profil, das den Screenshot erstellt hat, erklärte später, dass es sich um einen Fake handelt.
https://correctiv.org/faktencheck/2025/10/22/wer-ist-dieser-typ-viraler-trump-beitrag-ueber-merz-ist-nicht-echt/
Bürgergeld wird Grundsicherung – und Politiker teilen alte Mär von „Arbeit muss sich lohnen“
Nachdem die Koalition Details dazu ankündigte, wie sie das Bürgergeld zur Grundsicherung umbauen will, jubelten manche online: Arbeit und Leistung lohne sich endlich wieder. Doch das war auch schon vor der Reform so. von Gabriele Scherndl Ein menschenwürdiges Existenzminimum ist in Deutschland ein Grundrecht. Es muss jenen, die ihren Lebensunterhalt nicht aus eigenem Einkommen decken können, ein Mindestmaß an politischer und gesellschaftlicher Teilhabe ermöglichen. Das gerät immer wieder aus dem Blick, wenn Politikerinnen und Politiker Bürgergeldbeziehende als faul oder verantwortungslos dargestellen. Am 9. Oktober einigte sich der Koalitionsausschuss aus CDU, CSU und SPD auf Details zur sogenannten Neuen Grundsicherung, sie soll das Bürgergeld ablösen. Prompt behaupteten zahlreiche Politikerinnen und Politikern, jetzt lohne sich Arbeiten wieder. „Endlich gilt wieder: Wer arbeitet, muss mehr haben als der, der nicht arbeitet“, sagte etwa CSU-Chef Markus Söder nach der Einigung. „In Zukunft gilt wieder in Deutschland: Leistung lohnt sich“, schrieb Christoph Ploß, Bundestagsabgeordneter der CDU. Auch wenn derartige Aussagen einen anderen Eindruck erwecken: An der Höhe der Unterstützungsleistungen für Arbeitslose ändert sich durch die angekündigte Reform nichts – der Regelsatz bleibt bei maximal 563 Euro. Was sich ändern soll, sind die Sanktionen. Sie werden schärfer, etwa wenn Menschen Termine nicht wahrnehmen oder nicht genug daran mitwirken, eine Arbeit zu finden, wie die Koalitionsparteien mitteilten. Lohnt sich Arbeit dann künftig wieder mehr? Vor der Reform gilt genauso wie danach: Wer arbeitet, hat immer mehr als diejenigen, die auf das Bürgergeld beziehungsweise die Grundsicherung angewiesen sind. Das zeigen etwa eine Untersuchung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) aus Februar 2025, eine Arbeit des Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München (Ifo) aus Januar 2024 und eine Analyse des WDR-Monitors aus September 2023. Diese Studien betrachten den sogenannten Lohnabstand, also die Differenz zwischen den verfügbaren Mitteln in unterschiedlichen Konstellationen. Berücksichtigt werden in den Studien etwa auch Faktoren wie Wohnkosten, nicht aber Faktoren wie Zeit. Ebenfalls nicht enthalten sind Mehrausgaben, die durch eine Erwerbstätigkeit entstehen können – darauf haben uns Leserinnen und Leser hingewiesen. Das können Arbeitswegkosten sein oder auch praktische Ausgaben für Arbeitskleidung und -verpflegung. In dieser Debatte werden Menschen, die Bürgergeld erhalten, und Menschen, die für den Mindestlohn arbeiten, sogenannte Geringverdiener, gegeneinander ausgespielt. Ganz allgemein: Der Mindestlohn ist in den letzten Jahren stärker angestiegen als der Regelsatz vom Bürgergeld. Auch 2026 soll der Mindestlohn im Gegensatz zum Regelbedarf ansteigen. Im Unterschied zum Bürgergeld gehen zwar von einem Einkommen nach Mindestlohn noch Steuern und Sozial- und Krankenversicherung ab. Doch das Bürgergeld mit einem solchen Netto-Einkommen zu vergleichen, ist irreführend. Was nämlich häufig übersehen wird: Auch Geringverdiener haben Anspruch auf Sozialleistungen, wie Wohngeld, Kindergeld, Unterhaltsvorschussleistungen oder Kinderzuschläge, unter Umständen sogar auf aufstockendes Bürgergeld. Das WSI errechnete Anfang des Jahres für verschiedene Haushalt-Konstellationen, wie viel Einkommen ein Haushalt zur Verfügung hat. In keiner der betrachteten Konstellationen hatten Bürgergeld-Beziehende mehr Einkommen als Menschen, die zum Mindestlohn arbeiten. Wer trotz Arbeit und Sozialleistungen nicht genug verfügbares Einkommen hat, hat Anspruch auf Bürgergeld. Umgangssprachlich werden solche Menschen „Aufstocker“ genannt. Nicht alle nehmen diesen Anspruch jedoch wahr. Eine Studie über Deutschland aus 2019 schätzte, dass mehr als ein Drittel der erwerbstätigen Menschen ihren eigentlichen Anspruch auf Arbeitslosengeld II (heute Bürgergeld) nicht geltend machen. Dass erwerbstätige Bürgergeldempfänger – die sogenannten Aufstocker – mehr Geld zur Verfügung haben als nicht-erwerbstätige, ist durch Freibeträge gesichert. Denn erst ab bestimmten Beträgen wird das Einkommen auf die Sozialleistungen angerechnet. Wer arbeitet, hat also immer mehr als der, der nicht arbeitet, daran wird kein Rechenbeispiel rütteln. Nicht immer lohnt es sich jedoch, mehr zu arbeiten, also Stunden aufzustocken, wie eine Ifo-Studie aus 2023 gezeigt hat. Das liegt aber nicht am Bürgergeld, sondern an den hohen Abzügen der Transferleistungen, wie dem Kinderzuschlag oder Wohngeld. So kann es passieren, dass in bestimmten Familiensituationen und an Orten mit hohen Mieten ein höherer Verdienst durch den Verlust staatlicher Unterstützung aufgehoben wird. Mehr darüber – und welche weiteren Narrative und Falschbehauptungen über das Bürgergeld im Umlauf sind – steht in unserer Hintergrundrecherche. Update, 21. Oktober 2025: Wir haben Details zu den genannten Studien ergänzt. Redigatur: Paulina Thom, Matthias Bau
Gabriele Scherndl
Die Koalition reformiert das Bürgergeld und manche jubeln: Arbeit lohne sich endlich wieder. Doch das war auch schon vorher so.
[ "Hintergrund", "Politik" ]
2025-10-15T14:12:54+02:00
2025-10-15T14:12:54+02:00
2025-11-07T11:06:17+01:00
https://correctiv.org/faktencheck/hintergrund/2025/10/15/buergergeld-wird-grundsicherung-und-politiker-teilen-alte-maer-von-arbeit-muss-sich-lohnen/
Neuwahlen nach Rücktritt? Erneut kursiert erfundene Behauptung über Merz
Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts soll Friedrich Merz angeblich zu einem Rücktritt zwingen und Neuwahlen einleiten. Das ist frei erfunden. von Steffen Kutzner Das Team von Friedrich Merz soll angeblich vor dem Rücktritt stehen, heißt es in verschiedenen Videos Anfang Oktober 2025. Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts soll Friedrich Merz „ab morgen“ zum Rücktritt zwingen, wird darin behauptet. Diese Behauptung ist nicht neu, sie wird so ähnlich schon seit Monaten verbreitet und ist frei erfunden. Weder sind Rücktrittspläne von Merz bekannt, noch gab es ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das sich mit ihm befasste oder das ihn zum Rücktritt zwingen würde. Das bestätigte uns auch die Pressestelle der CDU. Auch Neuwahlen stehen nicht an; die könnte ohnehin nur der Bundespräsident ansetzen, indem er den Bundestag auflöst. Das Bundesverfassungsgericht dagegen kann einen Kanzler per Urteil weder absetzen noch anders zum Rücktritt zwingen; solche Entscheidungen fallen auch gar nicht in die Zuständigkeit des Gerichts. Der Potsdamer Verwaltungsrechtsanwalt Klaus Herrmann erklärte uns telefonisch, dass das Bundesverfassungsgericht zwar prüfe, ob eine Vertrauensfrage eines Kanzlers zulässig gewesen sei, wie etwa im Fall von Gerhard Schröder 2005, es aber keine Befugnisse habe, einen Kanzler abzusetzen. Womit genau sich das Bundesverfassungsgericht befasst, ist in Artikel 94 des Grundgesetzes festgeschrieben. Zu seinen Aufgaben gehört zum Beispiel die Auslegung des Grundgesetzes oder die Beurteilung der Frage, ob bestimmte Bundes- und Landesgesetze miteinander vereinbar sind. Zum Rücktritt gezwungen werden kann ein Bundeskanzler in Deutschland nur dann, wenn der Bundestag ihn im Rahmen eines Konstruktiven Misstrauensvotums abberuft. Dann muss der Bundestag sich jedoch auf einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin einigen. Auch dabei würde also keine Neuwahl anstehen, da der Kanzler nicht vom Volk gewählt wird. Insofern steht der Rücktritt eines Kanzlers auch nicht zwingend in Zusammenhang mit Neuwahlen. Redigatur: Matthias Bau, Gabriele Scherndl
Steffen Kutzner
Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts soll Friedrich Merz angeblich zu einem Rücktritt zwingen und Neuwahlen einleiten. Das ist frei erfunden.
[ "Faktencheck", "Politik" ]
Politik
2025-10-14T13:50:40+02:00
2025-10-14T13:50:40+02:00
2025-10-30T17:15:25+01:00
Friedrich Merz sei „ab morgen“ zum Rücktritt verpflichtet, wie das Bundesverfassungsgericht mitgeteilt habe.
Beiträgen auf Sozialen Netzwerken
2025-01-10 00:00:00
https://www.youtube.com/watch?v=m28OyMtbQxk%20
Falsch
Falsch. Das Bundesverfassungsgericht kann Merz nicht zum Rücktritt verpflichten. Abgesehen davon sind keine Rücktrittspläne von Merz bekannt.
https://correctiv.org/faktencheck/2025/10/14/neuwahlen-nach-ruecktritt-erneut-kursiert-erfundene-behauptung-ueber-merz/
UN-Generalversammlung: Johann Wadephul hörte Trump-Rede ohne Übersetzung
Nius-Chef Julian Reichelt deutet auf X an, Bundesaußenminister Johann Wadephul habe eine Übersetzung für Trumps Rede vor der UN-Generalversammlung gebraucht. Dabei zählt Deutsch überhaupt nicht zu den Amtssprachen der UN – und ist dementsprechend auch nicht als Übersetzungsoption verfügbar. von Sarah Thust Aufnahmen aus einem Livestream zeigen Außenminister Johann Wadephul, der mit ernster Miene und Kopfhörern die Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) verfolgt. Die Bilder teilten einige Nutzer am 23. September 2025 auf X, ehemals Twitter, mit dem Satz: „Wie ich eure Tweets lese“. Auch Nius-Chef Julian Reichelt teilte so ein Bild – allerdings verband er es mit der Andeutung, der deutsche Außenminister trage Kopfhörer, weil er bei der Versammlung eine Übersetzung für die Rede des US-Präsidenten gebraucht habe. Dass Wadephul – wie auch andere auf dem Foto – Kopfhörer trägt, bedeutet aber nicht unbedingt, dass er die Rede in deutscher Sprache hört. Schnell suchten einige Nutzerinnen und Nutzer Informationen zusammen, die das richtigstellen sollten. Die Erklärung erscheint unter dem Beitrag inzwischen als „Community Note“, also als Hinweis. Reichelt reagierte auf diese Kommentare jedoch nicht – sein Beitrag ist weiterhin online und wurde trotz der zahlreichen Korrektur-Hinweise auch von anderen weiterverbreitet (Stand: 29. September 2025). Was auf dem Foto zu sehen ist: Am 23. September 2025 hielt US-Präsident Donald Trump bei der UN-Generalversammlung eine Rede. Präsidentin der UN-Generalversammlung Annalena Baerbock hatte zu Beginn zwar gesagt, dass die Redezeit auf 15 Minuten begrenzt sei, doch daran hielt sich der US-Präsident nicht. Gegen 10 Uhr Ortszeit trat er in New York ans Podium und sprach knapp eine Stunde. Im Hintergrund übertrugen Dolmetscher seine Rede parallel in unterschiedliche Sprachen, die die Teilnehmenden über die im Saal verteilten Kopfhörer auswählen konnten. Ein Video der Trump-Rede findet sich im Live-Stream auf der Webseite der UN, im Publikum sitzen einige mit und andere ohne Kopfhörer. Die Aufnahme, die Wadephul zeigt, ist ab Minute 36:40 zu sehen, also während Trumps Rede. Allerdings hatten Teilnehmende über die Kopfhörer keine Verdolmetschung in deutscher Sprache zur Auswahl. Sondern nur die sechs Amtssprachen: Arabisch, Chinesisch, Französisch, Russisch, Spanisch und den Originalton, also in diesem Fall Englisch. Aus dem Auswärtigen Amt heißt es, dass Außenminister Johann Wadephul den Kopfhörer zur „akustischen Verstärkung“ genutzt und die Rede in englischer Originalsprache angehört habe. Die Debatte fand im Generalversammlungssaal am Amtssitz der Vereinten Nationen in New York statt, der sich über mehr als 30 Sitzreihen erstreckt. Die UN veröffentlichte die Sitzordnung, Deutschland waren Plätze im hinteren Teil des Saals zugeteilt. Warum Chefredakteur und Nius-Gründer Julian Reichelt trotz der Fakten suggeriert, der Minister habe eine Übersetzung gehört, bleibt unklar. Auf unsere Anfrage dazu antwortete er nicht. Korrektur, 2. Oktober 2025: Wir haben im Text an einigen Stellen konkretisiert, dass die mündliche Übertragung in eine andere Sprache als „dolmetschen“, nicht als „übersetzen“ bezeichnet wird. Redigatur: Kimberly Nicolaus, Max Bernhard
Sarah Thust
Johann Wadephul soll Donald Trumps englische Rede vor der UN-Generalversammlung übersetzt gehört haben. Deutsch wird aber nicht angeboten.
[ "Hintergrund", "Politik" ]
2025-09-30T18:12:04+02:00
2025-09-30T18:12:04+02:00
2025-10-08T14:03:46+02:00
https://correctiv.org/faktencheck/hintergrund/2025/09/30/un-generalversammlung-johann-wadephul-hoerte-trump-rede-ohne-uebersetzung-in-englisch/
Das Bürgergeld: Die hartnäckigsten Behauptungen im Faktencheck
Es sei zu teuer, biete zu wenig Anreiz zum Arbeiten oder verleite zu Sozialbetrug – immer wieder kursieren online und in der Politik Behauptungen über das Bürgergeld. Wir haben uns die größten Narrative der letzten Jahre genauer angeschaut. von Paulina Thom , Matthias Bau Die neue Regierung aus CDU/CSU und SPD will das Bürgergeld reformieren, es soll zu einer „neuen Grundsicherung“ werden. Im Raum stehen Kürzungen und härtere Sanktionen. Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas will im Herbst einen Entwurf vorlegen, 2026 soll die Reform laut Bundeskanzler Friedrich Merz in Kraft treten. Dass sachliche Argumente rund ums Bürgergeld mitunter zu kurz kommen, zeigt ein Blick auf die politische Debatte und die Behauptungen in Sozialen Netzwerken seit dessen Einführung Anfang 2023: Das Bürgergeld sei zu teuer, die Leistungen zu hoch und es biete keinen Anreiz zum Arbeiten. Das Bürgergeld soll ein „menschenwürdiges Existenzminimum“ sichern und steht Menschen zu, die ein zu geringes Einkommen haben. Die Gewährleistung dieses Existenzminimums ist allen in Deutschland lebenden Menschen als Grundrecht durch das Grundgesetz (Artikel 1 und Artikel 20) garantiert. Vorläufer war das Arbeitslosengeld II, auch Hartz IV genannt, finanziert wird es aus Steuergeldern. Laut der Bundesagentur für Arbeit kann jede Person das Bürgergeld beantragen, die mindestens 15 Jahre alt und noch nicht im Rentenalter ist, in Deutschland wohnt, mindestens drei Stunden pro Tag arbeiten kann oder hilfsbedürftig ist, weil sie zu wenig verdient. Auch wer mit einer hilfsbedürftigen Person lebt, kann Bürgergeld beantragen. Das Bürgergeld setzt sich aus verschiedenen Bausteinen zusammen und unterscheidet sich in seiner Höhe je nach Haushaltskonstellation. Im Wesentlichen basiert die Höhe auf sogenannten Regelsätzen und zusätzlichen Mehrbedarfen und Wohnkosten. Viele der Behauptungen sind schlichtweg falsch oder ihnen fehlt relevanter Kontext. Zeit für einen Überblick: Wir fassen die hartnäckigsten Behauptungen der letzten Jahre zusammen und ordnen sie ein. Warum sich Mythen rund um das Bürgergeld und Vorurteile gegenüber dessen Empfänger so hartnäckig in der Gesellschaft halten und welchen Anteil die Politik dabei hat, dazu haben wir hier recherchiert. Inhaltsverzeichnis Ob CDU-Politiker wie Friedrich Merz oder Carsten Linnemann, Alice Weidel und René Springer von der AfD oder Alexander Dobrindt von der CSU – mit Behauptungen zu einem „Konkurrenzangebot für Nichtarbeitende“ oder Aussagen über die angebliche Höhe von Leistungen für einzelne Familien befeuern Politiker immer wieder ein beliebtes Narrativ in der Debatte ums Bürgergeld: Die gezahlten Leistungen seien angeblich so hoch, dass sich das Arbeiten nicht mehr lohne. Dabei zeigen mehrere Auswertungen: Wer arbeitet, hat immer mehr. Gegeneinander ausgespielt werden Menschen, die Bürgergeld erhalten, und Menschen, die für den Mindestlohn arbeiten, sogenannte Geringverdiener. Ganz allgemein: Der Mindestlohn ist in den letzten Jahren stärker angestiegen als der Regelsatz vom Bürgergeld. Im Unterschied zum Bürgergeld gehen zwar von einem Einkommen nach Mindestlohn noch Steuern und Sozial- und Krankenversicherung ab. Doch das Bürgergeld mit einem solchen Netto-Einkommen zu vergleichen, ist irreführend. Was nämlich häufig übersehen wird: Auch Geringverdiener haben Anspruch auf Sozialleistungen, wie Wohngeld, Kindergeld, Unterhaltsvorschussleistungen oder Kinderzuschläge, unter Umständen sogar auf aufstockendes Bürgergeld. Folgende Grafik zeigt, wie viel verfügbares Einkommen verschiedene Haushaltskonstellationen haben, je nachdem ob sie zum Mindestlohn arbeiten oder Bürgergeld beziehen. Der Lohnabstand zeigt den Unterschied an. Nicht alles wird in diesen Auswertungen berücksichtigt, darunter etwa Faktoren wie Zeit oder Mehrausgaben, die durch eine Erwerbstätigkeit entstehen können. Das können Arbeitswegkosten sein oder auch praktische Ausgaben für Arbeitskleidung und -verpflegung. Wer trotz Arbeit und Sozialleistungen nicht genug verfügbares Einkommen hat, hat Anspruch auf Bürgergeld. Umgangssprachlich werden solche Menschen „Aufstocker“ genannt. Nicht alle nehmen diesen Anspruch jedoch wahr. Eine Studie über Deutschland aus 2019 schätzte, dass mehr als ein Drittel der erwerbstätigen Menschen ihren eigentlichen Anspruch auf Arbeitslosengeld II (heute Bürgergeld) nicht geltend machen. Dass erwerbstätige Bürgergeldempfänger – die sogenannten Aufstocker – mehr Geld zur Verfügung haben als nicht-erwerbstätige, ist durch Freibeträge gesichert. Denn erst ab bestimmten Beträgen wird das Einkommen auf die Sozialleistungen angerechnet. Wer arbeitet, hat also immer mehr als der, der nicht arbeitet, daran wird kein Rechenbeispiel rütteln. Was Fachleute aber auch beschäftigt, ist die Frage: Lohnt es sich immer, mehr zu arbeiten? Diese Frage betrifft alle Arbeitenden, die Transferleistungen, wie Bürgergeld, Wohngeld, Kindergeld oder Kinderzuschlag erhalten. Und hier kann es tatsächlich in bestimmten Konstellationen zu Situationen kommen, in denen es sich nicht rentiert, mehr zu arbeiten, wie eine Studie des Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung (ifo) aus 2023 gezeigt hat. Das liegt aber nicht am Bürgergeld, sondern an den hohen Abzügen der Transferleistungen, wie dem Kinderzuschlag oder Wohngeld. Diese werden bei steigendem Einkommen unterschiedlich stark zurückgefahren. So kann es passieren, dass ein höherer Verdienst, sei es durch Lohnerhöhungen oder eine Erhöhung der Arbeitszeit, durch den Verlust an Transferleistungen ausgeglichen wird und am Ende nicht mehr Netto rauskommt. Besonders ausgeprägt ist das bei Haushalten mit Kindern und bei hohen Mietkosten. Anders als man vermuten könnte, empfehlen Fachleute deswegen aber nicht, Wohngeld und Co. zu kürzen, sondern sie zu bündeln oder länger zu zahlen. Das führe zwar erst zu mehr Ausgaben für den Staat, denn mehr Personen würden einen Anspruch haben, rentiere sich dann aber langfristig, weil Menschen mehr arbeiteten und entsprechende Sozialabgaben zahlten. Regelmäßig heißt es aus der Politik und in der öffentlichen Debatte, das Bürgergeld sei zu teuer und Kürzungen seien nötig. Bundeskanzler Friedrich Merz sagte Ende August, Deutschland könne sich den derzeitigen Sozialstaat nicht mehr leisten – ein Baustein sei, das Bürgergeld zu reformieren. Dabei sehen Experten kein großes Einsparpotenzial, zumal das Bürgergeld ein durch das Grundgesetz verankertes „Existenzminimum“ garantieren soll. Laut Sozialbudget-Bericht des Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) beliefen sich die Kosten für das Bürgergeld 2024 auf geschätzte 58 Milliarden Euro. Darin enthalten sind neben dem tatsächlichen Bürgergeld laut BMAS auch die Bundesbeteiligung und Beteiligung der Kommunen bei den Kosten der Unterkunft und den Verwaltungskosten sowie Eingliederungsleistungen. Damit machte das Bürgergeld schätzungsweise 4,1 Prozent aller Sozialausgaben in Deutschland aus, 2010 waren es bei Hartz IV noch 5,8 Prozent. Den größten Anteil hatten 2024 insgesamt die Kranken- und die Rentenversicherung mit je 25,4 und 29,1 Prozent. Nicht alle diese Kosten trägt aber allein der Staat, sondern auch Arbeitgeber und Arbeitnehmer. In absoluten Zahlen sind die Kosten zunächst von Hartz IV und anschließend des Bürgergeldes in den letzten Jahren gestiegen. 2024 betrugen die reinen Bürgergeld-Leistungen – unabhängig von Unterkunft und Heizung – laut Bundeshaushalt 29,15 Milliarden Euro, etwa 7 Milliarden mehr als noch 2014. Damit hatte das reine Bürgergeld einen Anteil von etwas mehr als 6 Prozent am Bundeshaushalt, inklusive aller Leistungen und Kosten waren es 11 Prozent. Insbesondere 2023 und 2024 wurden die Regelbedarfe stärker angepasst, 2025 folgte eine Nullrunde. Der Etat des BMAS sieht in diesem Jahr 190,34 Milliarden Euro vor, 29,6 Milliarden Euro davon sind für das Bürgergeld geplant. Wichtig bei der Einordnung der Summen für das Bürgergeld ist auch ein Blick auf die Wirtschaftsleistung. Die Wirtschaftsleistung, also das Bruttoinlandsprodukt (BIP), spiegelt den Wert aller produzierten Waren und Dienstleistungen wider und ist ebenfalls in den letzten Jahrzehnten mit einigen Ausnahmen – preisbereinigt – angestiegen. Nimmt man den Anteil aller Sozialausgaben aus dem Sozialbudget-Bericht am BIP, ist dieser relativ stabil geblieben, auch im Vergleich zu anderen Industrieländern. Vergleicht man den Anteil des Bürgergeldes für 2024 (die geschätzten 58 Milliarden Euro) an der Wirtschaftsleistung, ist dieser im Vergleich zu 2010 gesunken. Während Hartz IV damals 1,8 Prozent ausmachte, lag der Anteil des Bürgergeldes 2024 nach fast stetigen 1,3 Prozent in den Vorjahren bei 1,4 Prozent. Die Anpassungen vom Regelbedarf erfolgen nicht willkürlich, die Ermittlung ist gesetzlich geregelt und auch deshalb kann der Staat hier nicht einfach kürzen und Kosten einsparen. Wie die Sozialwissenschaftlerin Jutta Schmitz-Kießler von der Hochschule Bielefeld in einem Blogbeitrag erklärt, orientiert sich die Anpassung der Regelbedarfe an der Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben unterer Einkommensgruppen. Seit 2005 sind die Regelbedarfe im Vergleich zur Nettolohnentwicklung und den Verbraucherpreisen nicht deutlich gestiegen. Eine Studie im Auftrag des Vereins Sanktionsfrei bei der rund tausend Menschen, die Bürgergeld beziehen, befragt wurden, ergab, dass mehr als jeder dritte Bürgergeldempfänger auf Essen verzichtet, um andere notwendige Dinge finanzieren zu können. Insbesondere Eltern verzichten demnach zu Gunsten ihrer Kinder auf Essen (54 Prozent). Nicht alle Unterstützungszahlungen, die Bürgergeldbeziehende bekommen, haben sie auch wirklich zur Verfügung. Das trifft besonders auf die Kosten für Wohnen und Heizen zu, denn diese Kosten übernimmt der Staat und zahlt sie nicht an die Menschen aus. Übernommen werden Kosten „in angemessener Höhe“. Was angemessen ist, kommt auf den Wohnort und darauf an, wie groß der Haushalt ist. Jobcenter orientieren sich dabei am Mietspiegel. Stimmung wird mit den angeblich zu teuren Wohnungen dennoch gemacht. Bundeskanzler Friedrich Merz sagte zum Beispiel im Juli in seinem Sommerinterview: „Sie haben in den Großstädten heute teilweise bis zu 20 Euro pro Quadratmeter, die Sie vom Sozialamt oder von der Bundesagentur bekommen für Miete, […] wenn Sie das mal hochrechnen, das sind bei 100 Quadratmetern schon 2.000 Euro im Monat“. Eine „normale Arbeitnehmerfamilie“ könne sich eine solche Wohnung nicht leisten, so Merz weiter. Dass solche Kosten nur in München, Hamburg und im Main-Taunus-Kreis erreicht werden können, wenn in einem Haushalt zwischen 6 und 16 Personen leben, erklärten wir im Juli 2025. Auf Anfrage stellte uns die Bundesagentur für Arbeit Daten zur Verfügung, die zeigen, wie viel sogenannte Bedarfsgemeinschaften zwischen einer und sechs Personen im Jahr durchschnittlich für die Unterkunft gezahlt wurde. Von den von Merz behaupteten 2.000 Euro sind die Durchschnittswerte weit entfernt: Wie hoch die übernommenen Durchschnittskosten nur für die Miete in den Jahren 2020 bis 2024 in den Bundesländern waren, zeigt die folgende Grafik, die ebenfalls auf Daten der Bundesagentur für Arbeit basiert. In Hamburg waren die übernommenen Kosten 2024 mit durchschnittlich 701 Euro am höchsten, am niedrigsten waren sie in Thüringen mit durchschnittlich 369 Euro. Auch beim Thema Sanktionen kursieren falsche Behauptungen. Vor allem mit Blick auf Menschen, die Jobangebote mehrfach abgelehnt haben – abwertend „Totalverweigerer“ genannt. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann behauptete etwa 2024, es gebe eine „sechsstellige Zahl“ von Menschen, die „grundsätzlich nicht bereit“ seien, „eine Arbeit anzunehmen“. Laut Informationen der Bundesagentur für Arbeit ist diese Zahl jedoch deutlich zu hoch gegriffen. In ihren Statistiken erfasst die Agentur, wie viele Sanktionen es gab, weil die Aufnahme einer Arbeit, Ausbildung oder vergleichbare Maßnahmen verweigert wurden. 2024 gab es aus diesem Grund insgesamt rund 23.400 Kürzungen. Diese Kürzungen standen laut der Bundesagentur für Arbeit im Februar 2025 rund 5,4 Millionen Leistungsberechtigten gegenüber, die Anspruch auf Bürgergeld haben. Von diesen 5,4 Millionen standen aber nur ein Bruchteil, rund 1,8 Millionen tatsächlich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung – denn ein Großteil der Leistungsberechtigten sind Kinder oder Menschen in Ausbildung und Weiterbildungen. Wie uns ein Sprecher der Bundesagentur erklärte, lässt sich aus der Zahl der Sanktionen nicht zwingend auf die Anzahl der sanktionierten Personen rückschließen, weil eine Person auch mehrfach sanktioniert werden könne. Wir sind der Einfachheit halber davon ausgegangen, dass jede Sanktion genau eine leistungsberechtigte Person betraf, also insgesamt 23.400 Menschen sanktioniert wurden. Das heißt, dass der Anteil derjenigen, die arbeiten könnten, aber die „Aufnahme oder Fortführung einer Arbeit, Ausbildung oder Teilnahme an einer Eingliederungsmaßnahme“ im Jahr 2024 verweigert haben, bei maximal rund 1,3 Prozent lag. Als Mittel, um Menschen zum Arbeiten zu bewegen, bringen Politikerinnen und Politiker immer wieder schärfere Sanktionen ins Spiel. CDU und SPD vereinbarten in ihrem Koalitionsvertrag im Mai 2025: „Bei Menschen, die arbeiten können und wiederholt zumutbare Arbeit verweigern, wird ein vollständiger Leistungsentzug vorgenommen.“ Das ist allerdings in sehr wenigen Fällen möglich, wie wir im Juni 2025 berichteten. Nämlich nur dann, wenn „Leistungsberechtigte es selbst in der Hand haben, durch Aufnahme einer ihnen angebotenen zumutbaren Arbeit […] ihre menschenwürdige Existenz tatsächlich und unmittelbar durch die Erzielung von Einkommen selbst zu sichern“. Das urteilte das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2019. Die Effekte von Sanktionen sind bislang wenig erforscht. Wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil schreibt, zeigten vorhandene Studien zwar, dass Leistungskürzungen positive arbeitsmarktpolitische Wirkungen entfalten können, dass Betroffene dadurch jedoch ihre Hilfebedürftigkeit tatsächlich besser überwinden können, sei „nicht eindeutig belegt“. In einer Untersuchung im Jahr 2013 zeigte das Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik Köln mithilfe einer repräsentativen Befragung in Nordrhein-Westfalen, dass Totalsanktionen vor allem dazu führten, dass Menschen das Vertrauen in ihren Sachbearbeiter oder ihre Sachbearbeiterin verloren. Im August 2024 berichtete das Institut für Arbeitsmarkt und Bildungsforschung (IAB), eine Dienststelle der Bundesagentur für Arbeit, dass die Möglichkeit von Sanktionen zwar dazu führen könne, dass Menschen eher eine Beschäftigung aufnehmen. Eine hohe Sanktionswahrscheinlichkeit führte jedoch eher dazu, dass Menschen schlechter bezahlte Berufe annehmen würden. Zudem verstärkte sie „psychische Belastungen“ und bei Sanktionen von 30 Prozent oder mehr drohe die „Sperrung der Energieversorgung oder gar Wohnungsverlust“, so das IAB im März 2025. Der Verein Sanktionsfrei fragte rund tausend Menschen, die Bürgergeld beziehen, für eine Studie von Juni 2025 unter anderem, ob sie sich zur Gesellschaft zugehörig oder ausgeschlossen fühlen. Laut dem Verein gaben 42 Prozent der Befragten an, dass sie sich schämen, Bürgergeld zu beziehen. „Dabei sagt die große Mehrheit, dass vielen Menschen nicht klar sei, wie schnell sie selbst ins Bürgergeld rutschen können (82 %)“, so Sanktionsfrei. Ähnliche Ergebnisse berichteten auch die Forscher Andreas Hirseland und Stefan Röhrer in einem Fachaufsatz mit Blick auf Hartz IV: „Vor diesem Hintergrund erleben viele Hilfebeziehende, obwohl sie ihnen zustehende soziale Rechte wahrnehmen und mit dem Bezug von Unterstützungsleistungen lediglich eine bestehende gesellschaftliche Verpflichtung eingelöst wird, die Inanspruchnahme eben dieser Leistungen letztlich als beschämendes Almosen“. Auch deshalb ist fraglich, ob Sanktionen als zusätzliches „Druckmittel“ sinnvoll sind. Welche Menschen das Bürgergeld in Anspruch nehmen, sorgt regelmäßig für Aufregung. Zum Beispiel, wenn Politikerinnen und Politiker wie etwa Petr Bystron, AfDler und EU-Abgeordneter oder die AfD-Bundestagsabgeordnete Nicole Höchst Grafiken teilen, die zeigen sollen, dass Ausländerinnen und Ausländer beziehungsweise Menschen mit Migrationshintergrund besonders häufig Bürgergeld beziehen. Über dieses Narrativ berichteten wir bereits 2023. Richtig ist, dass Deutsche in absoluten Zahlen die größte Gruppe der Bürgergeldbeziehenden sind. Richtig ist aber auch: Menschen, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, machen ebenfalls einen großen Anteil aus. Ob sich Ausländerinnen und Ausländer in den Arbeitsmarkt integrieren können, hängt jedoch zum Beispiel davon ab, wie lange sie bereits in Deutschland sind, wo sie untergebracht werden, ob sie Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder finden und ob sie in Deutschland bleiben wollen. Detailliert haben wir die Gründe hier erklärt. Ein Blick auf die Situation der Ukrainerinnen und Ukrainer in Deutschland zeigt das beispielhaft. Rund 65 Prozent der in Deutschland lebenden erwerbsfähigen Ukrainerinnen und Ukrainern sind Stand Februar 2025 auf das Bürgergeld angewiesen, genauso wie knapp 4 Prozent der Deutschen. Die meisten von ihnen befinden sich seit 3,5 Jahren in Deutschland. Ihre Beschäftigungsquote lag laut einem Bericht des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung von Oktober 2024 bei 30 Prozent. Das ist nicht ungewöhnlich, wie folgende Grafik des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) von 2023 zeigt. Die Erwerbstätigenquote aller Geflüchteten, egal aus welchem Land, liegt demnach 3,5 Jahre nach dem Zuzug nach Deutschland im Schnitt bei rund einem Drittel. Je länger die Menschen hier sind, desto höher die Quote derjenigen, die arbeiten. Ein weiterer Bericht des IAB zeigt, dass die Beschäftigungsquote von Geflüchteten, die im Jahr 2015 nach Deutschland kamen, 2024 bei 64 Prozent lag und damit nur noch leicht unter dem bundesdeutschen Durchschnitt von 70 Prozent. Auch bei den Begrifflichkeiten rund ums Bürgergeld geht es teils durcheinander. So teilte der AfD-Bundestagsabgeordnete Bernd Schattner im März 2023 auf Tiktok die Behauptung: „Unfassbar: 63 Prozent aller Grundsicherungsempfänger in Deutschland haben einen Migrationshintergrund!“ um im nächsten Satz eine „Abschiebeoffensive für abgelehnte Asylbewerber“ zu fordern. Das eine hat mit dem anderen jedoch nichts zu tun. Denn Asylbewerberinnen und Asylbewerber bekommen kein Bürgergeld, sondern Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Mit Blick auf den Migrationshintergrund von Bürgergeldbeziehenden lässt sich sagen: Richtig ist, dass rund 64 Prozent aller erwerbsfähigen Leistungsberechtigten einen Migrationshintergrund haben. Doch was heißt das? Die Bundesagentur für Arbeit erfasst so alle Menschen, die keine deutsche Staatsangehörigkeit haben oder die außerhalb Deutschlands geboren wurden und nach 1949 nach Deutschland einwanderten. Migrationshintergrund haben für die Bundesagentur auch diejenigen, bei denen ein Elternteil nicht in Deutschland geboren wurde, das nach 1949 nach Deutschland einwanderte. Aktuell treffen diese Kriterien auf rund 2,5 Millionen erwerbsfähige Leistungsberechtigte zu. Insgesamt hatten laut dem Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes rund 23 von 84 Millionen Deutschen im Jahr 2023 einen Migrationshintergrund. Es ist also nicht verwunderlich, dass von den Menschen mit Anspruch auf das Bürgergeld viele einen Migrationshintergrund haben. Immer wieder schaffen es Behauptungen über angebliche Riesensummen, die an Bürgergeldempfänger gezahlt würden, in die Schlagzeilen. So berichtete beispielsweise das Rechtsaußen-Portal Nius im April 2025, mehr als 400 Haushalte und Familien würden mehr als 10.000 Euro, fünf sogar 20.000 Euro Bürgergeld pro Monat „kassieren“. Verdreht wird dabei die Tatsache, dass das Geld zum Großteil gar nicht an die Bedarfsgemeinschaften ausgezahlt wurde, sondern vom Amt direkt an die Vermieter, wie die Bild im Oktober 2024 berichtete. Eine falsche Geschichte von einem Syrer mit mehreren Frauen und Kindern, der angeblich monatlich 30.000 Euro Sozialhilfe erhalte, geistert seit 2017 durch Soziale Netzwerke. „Unsere Sozialkassen werden geplündert und beraubt,“ hieß es dazu in Kommentaren. Wir haben die Behauptung mehrfach widerlegt. Anfang Juni 2025 sagte die Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas im Interview mit dem Stern, es gebe in Deutschland „groß angelegten Sozialleistungsmissbrauch“ und „mafiöse Strukturen“ im Zusammenhang mit dem Bürgergeld. Menschen würden aus anderen europäischen Staaten für Mini-Arbeitsverträge nach Deutschland gelockt, gleichzeitig würde für sie aufstockendes Bürgergeld beantragt und abgeschöpft werden. Als Beispiel nannte Bas die Stadt Duisburg. Medienberichte, die Bundesagentur für Arbeit und der Leiter des Jobcenters bestätigen solche Fälle, auch andernorts – vor allem da, wo es viel Leerstand und günstigen Wohnraum gebe. Insbesondere würden Menschen aus Rumänien und Bulgarien auf Minijob-Basis hergelockt. Wie groß das Ausmaß ist, ist unklar. Auf Nachfrage schreibt ein Sprecher des BMAS, es handele „sich nach derzeitiger Kenntnis um regionale Phänomene, nicht um ein flächendeckendes Problem“. Fälle von Sozialbetrug im Zusammenhang mit „mafiösen Strukturen“ werden demnach statistisch nicht gesondert erfasst. Laut Bundesagentur für Arbeit hätten die gemeinsam betriebenen Jobcenter 2023 229 Fälle und 2024 421 Fälle von „bandenmäßigen Betrug“ erfasst. Im laufenden Jahr 2025 bis zum Mai seien es 195 Fälle gewesen. Insgesamt wurde für alle Jahre in etwa 360 Fällen Strafanzeige gestellt. Es sei jedoch von einer höheren Dunkelziffer auszugehen. Wie schnell rassistische Vorurteile beim Thema Bürgergeld wirken, zeigt einer unserer Faktenchecks aus 2023: Weil an drei Briefkästen an einem Haus in Rheinland-Pfalz 120 ausländisch-gelesene Namen standen, witterten viele online Sozialbetrug und prangerten die „Ausplünderung“ des Staates an. Dabei wurde das Gebäude von einer Spedition zur Unterbringung von LKW-Fahrern angemietet, Sozialleistungen wurden an keine der Personen ausgezahlt. Wenn es um den Missbrauch von Sozialleistungen geht, bekämen „anekdotische Einzelfallgeschichten“ viel Aufmerksamkeit und provozierten Empörung, schreibt Jennifer Eckhardt, Sozialwissenschaftlerin an der TU Dortmund, in einem Blogbeitrag. Die verfügbaren Zahlen zeigen, dass die Missbrauchsquote verhältnismäßig gering ist. 2024 hat die Bundesagentur für Arbeit in 101.000 Fällen Leistungsbetrug beim Bürgergeld festgestellt. Als Leistungsmissbrauch zählen unter anderem das Verschweigen von Einkommen, nicht gemeldete Beschäftigungen oder nicht gemeldete Haushaltsmitglieder. Der Zoll hat 2024 knapp 70.000 Ermittlungsverfahren wegen Verdacht auf Leistungsmissbrauch eingeleitet, heißt es auf Nachfrage aus der Pressestelle. Dabei werde nicht zwischen Bürgergeld und Arbeitslosengeld unterschieden. Gemessen an 5,56 Millionen Leistungsempfangenden entspricht das zusammen einer Missbrauchsquote von etwa 3 Prozent. Es ist möglich, dass bei dieser Berechnung Fälle, die sowohl in der Statistik der Bundesagentur als auch des Zolls vorkommen, doppelt gezählt werden. Auch ein Blick auf die Schadenssummen liefert Kontext: 2023 betrug der Schaden laut Bundesagentur für Arbeit etwa 260 Millionen Euro. Schwerwiegende Fälle kämen im Verhältnis zur Gesamtzahl der Leistungsberechtigten eher selten vor. Der „bandenmäßige Leistungsmissbrauch“, bei dem etwa Gruppen aus dem Ausland Arbeitsverhältnisse vortäuschen, machte rund viereinhalb Millionen Euro aus. Aktuelle Zahlen gebe es nicht, schreibt die Bundesagentur für Arbeit auf Nachfrage, denn die Methodik der zugrunde liegenden Datenerhebung werde überarbeitet. Zum Vergleich: Allein durch Tricksereien bei der Erbschaftssteuer entgingen dem Staat 2023 etwa 2,6 Milliarden Euro, wie eine TAZ-Recherche ergab, 2024 waren es laut Netzwerk Steuergerechtigkeit sogar 3,6 Milliarden Euro. Der Sonderbericht des Bundesrechnungshofes schätzt den jährlichen Schaden durch Steuerhinterziehung auf einen „zweistelligen Milliardenbetrag“. Die Deutsche Steuer-Gewerkschaft geht von Schäden zwischen 100 oder sogar 200 Milliarden Euro aus, wenn man die aggressive Steuergestaltung multinationaler Konzerne miteinbeziehe. Den größten Anteil mache ansonsten der alltägliche Steuerbetrug, wie Schwarzarbeit, aus. Korrektur, 13. Oktober 2025: Wir haben die Grafik „So setzt sich die Gruppe der Bürgergeldbeziehenden zusammen“ angepasst und deutlich gemacht, dass sowohl Aufstocker als auch Totalverweigerer zu den erwerbsfähigen Bürgergeldbeziehenden gehören. Wir haben zudem die anteiligen Kosten des Bürgergeldes am Bundeshaushalt ergänzt. Update, 21. Oktober 2025: Wir haben ergänzt, dass die Auswertungen zur Frage „Lohnt sich Arbeit?“ mögliche Mehrausgaben durch die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit, wie etwa Fahrtkosten, nicht enthalten. Wir haben zudem konkretisiert, dass der Staat nicht alle Ausgaben aus dem Sozialbudget-Bericht trägt. Redigatur: Max Bernhard, Sophie Timmermann
Matthias Bau
Es sei zu teuer, biete keinen Anreiz zum Arbeiten oder verleite zu Sozialbetrug. Die größten Narrative zum Bürgergeld im Faktencheck.
[ "Faktencheck", "Hintergrund", "Politik" ]
2025-09-30T15:55:44+02:00
2025-09-30T15:55:44+02:00
2025-10-24T11:44:56+02:00
https://correctiv.org/faktencheck/hintergrund/2025/09/30/das-buergergeld-die-hartnaeckigsten-behauptungen-im-faktencheck/
Zur Hälfte erfunden: Zitat wird Rechtswissenschaftler Hans Herbert von Arnim untergeschoben
Rechtswissenschaftler Hans Herbert von Arnim gilt als Kritiker, der Politikern auf die Finger schaut. Ein Beispiel zeigt jedoch: In Sozialen Netzwerken wird von Arnim teilweise falsch zitiert. von Steffen Kutzner Seit Jahren kursiert ein angebliches Zitat von dem Rechtswissenschaftler Hans Herbert von Arnim in Sozialen Netzwerken: „Hinter der demokratischen Fassade wurde ein System installiert, in dem völlig andere Regeln gelten als die des Grundgesetzes. Das ‚System‘ ist undemokratisch und korrupt, es betrügt die Bürger skrupellos.“ Im August und September 2025 tauchten diese Sätze wieder auf Facebook und Threads auf. Von Arnim fordert seit Jahren mehr direkte Demokratie und kritisiert Parteien sowie Politiker für deren Arbeitsweise und Finanzierung. Dennoch stammt das Zitat in der Form nicht von ihm. Der erste Satz des Zitats findet sich sehr ähnlich in von Arnims Buch „Das System“ von 2001. Im Buch heißt es auf Seite 26: „Im Laufe der Zeit wurde hinter der demokratischen Fassade ein System etabliert, in dem völlig andere Regeln gelten als die des Grundgesetzes. Dieses im Verborgene wuchernde (…)“ Darauf folgt aber ein anderer Satz, als in den Beiträgen in Sozialen Netzwerken behauptet. Eine Google-Suche nach dem zweiten Satz, das „System“ sei undemokratisch, korrupt und „betrüge“ Bürger „skrupellos“, führt zu keinen brauchbaren Ergebnissen. Es finden sich jedoch mehrere Faktenchecks der Deutschen Presse-Agentur (DPA). Das Zitat kursierte im fast identischen Wortlaut schon vor mehreren Jahren auf Facebook. Damals noch mit dem Zusatz, Krisen seien das Ziel der Eliten. Arnim ließ der DPA damals mitteilen, dass das Zitat in dieser Zusammenstellung nicht von ihm stamme. Redigatur: Kimberly Nicolaus, Sarah Thust
Steffen Kutzner
Hans Herbert von Arnim gilt als Kritiker, der Politikern auf die Finger schaut. In Sozialen Netzwerken wird er jedoch teils falsch zitiert.
[ "Faktencheck", "Politik" ]
Politik
2025-09-26T15:31:32+02:00
2025-09-26T15:31:32+02:00
2025-09-26T17:34:11+02:00
Hans Herbert von Arnim habe gesagt: „Hinter der demokratischen Fassade wurde ein System installiert, in dem völlig andere Regeln gelten als die des Grundgesetzes. Das ‚System‘ ist undemokratisch und korrupt, es betrügt die Bürger skrupellos.“
Beiträgen auf Threads und Facebook
2025-10-05 00:00:00
https://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=pfbid02aMXYEN5JRsNYZ5MmFD1Wqi1pBik5AXLuDW7mUz2gDpPoyMBYuAe8giXi6DTYLC9Zl&id=100008858958350
Teilweise falsch
Teilweise falsch. Der erste Satz stand so ähnlich in einem Buch des Rechtswissenschaftlers, doch der zweite Satz stammt laut seinen Angaben nicht von ihm und es finden sich auch keine anderen Quellen, die das Zitat belegen würden.
https://correctiv.org/faktencheck/2025/09/26/hans-herbert-von-arnim-zitat-korrupt-und-betruegerisch-wurde-untergeschoben/
OB-Wahl in Ludwigshafen: Nein, AfD-Politiker Joachim Paul wurde nicht „wegen Tolkien-Zitat“ ausgeschlossen
Für die Oberbürgermeister-Wahl in Ludwigshafen am Rhein darf Joachim Paul im September 2025 nicht antreten. Manche behaupten im Netz, er sei ausgeschlossen, weil er literarische Werke wie das von Tolkien zitiert habe. Das ist irreführend: Pauls Ausschluss lagen mehrere Anhaltspunkte zugrunde, die seine Verfassungstreue infrage stellten. von Sara Pichireddu Am 21. September 2025 wählt Ludwigshafen in Rheinland-Pfalz eine neue Oberbürgermeisterin oder einen neuen Oberbürgermeister. Nicht auf dem Stimmzettel: Joachim Paul von der AfD. Der Wahlausschuss der Stadt schloss ihn Anfang August von der Wahl aus. Paul selbst sah sich zu Unrecht angegriffen, scheiterte aber mit einem Antrag beim Oberverwaltungsgericht. Grundlage für seinen Ausschluss ist ein Bericht des Landesverfassungsschutzes Rheinland-Pfalz, der beim Wahlausschuss offenbar Zweifel an Pauls Verfassungstreue weckte. Pauls Parteikollege Markus Buchheit, Abgeordneter im Europäischen Parlament, veröffentlichte dazu ein Bild auf X mit der Aufschrift: „Ein VS-Bericht, sie zu knechten. Wegen Tolkien-Zitat von der Wahl ausgeschlossen“. Er schreibt weiter, der Verfassungsschutz habe Tolkien, den Schriftsteller, und das Nibelungenlied „als Verdachtsmomente“ gewertet. Sein Beitrag wurde auf der Plattform X und Facebook hundertfach geteilt, auch von anderen AfD-Politikern und Parteiprofilen. In den Kommentaren: Empörung über das angeblich „undemokratische“ Vorgehen des Verfassungsschutzes. Auf unsere Bitte um Stellungnahme antwortete Buchheit nicht. Das Rechtsaußen-Medium Nius griff Buchheits Wortwahl später in der Überschrift auf. Drei Wochen danach nimmt das Narrativ international an Fahrt auf: Der US-amerikanische Journalist und Buchautor Michael Shellenberger schrieb in einem Beitrag auf X vom 29. August, Paul sei aus „nichtigen Gründen“ von der Kandidatur für das Bürgermeisteramt ausgeschlossen worden, etwa wegen einer „Lobeshymne“ auf „Herr der Ringe“. Elon Musk teilte Shellenbergers Beitrag, der es damit auf 5,2 Millionen Ansichten brachte. Pauls Ausschluss von der Wahl kam jedoch nicht wegen harmloser literarischer Zitate zustande, wie in den Beiträgen angedeutet. CORRECTIV.Faktencheck liegt die elfseitige Antwort des Verfassungsschutzes Rheinland-Pfalz an die Vorsitzende des Landeswahlausschusses vor (PDF). Wir fragten außerdem einen Rechtswissenschaftler, wie er den Fall einschätzt. Zu dem Ausschluss kam es so: Die Vorsitzende des Wahlausschusses, Ludwigshafens amtierende Oberbürgermeisterin Jutta Steinruck (parteilos), schrieb dem Innenministerium Rheinland-Pfalz, es gebe Hinweise auf fehlende Verfassungstreue des Bewerbers Paul und bat um Einschätzung. Der Landesverfassungsschutz Rheinland-Pfalz antwortete mit 16 „gerichtsverwertbaren“ Anhaltspunkten, nach denen Pauls Verfassungstreue nicht gegeben sein könnte. Die Mehrheit im Wahlausschuss (6:1 Stimmen) bezweifelte danach, dass Paul gemäß Gemeindeordnung des Landes Rheinland-Pfalz „jederzeit“ für die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes eintreten würde und schloss den Kandidaten der AfD aus. Paul legte Beschwerde beim Verwaltungsgericht Neustadt an der Weinstraße ein. Das hielt laut einer Pressemitteilung die Entscheidung des Wahlausschusses nicht für rechtswidrig: „Gerade die von der freiheitlichen demokratischen Grundordnung erfasste Menschenwürde sei als der oberste Wert des Grundgesetzes anerkannt und unverfügbar. Antisemitische oder auf rassistische Diskriminierung zielende Konzepte seien damit nicht vereinbar“, begründete das Gericht. Hinreichende Zweifel an der Verfassungstreue könnten bereits daraus abgeleitet werden, dass der AfD-Kandidat „wiederholt die Verbreitung von sogenannten Remigrationsplänen zumindest unterstützt habe“. Das Oberverwaltungsgericht bestätigte die Entscheidung anschließend. Markus Ogorek, Direktor des Instituts für Öffentliches Recht und Verwaltungslehre an der Universität zu Köln, erklärte uns auf Nachfrage, dass die durch den Verfassungsschutz Rheinland-Pfalz übermittelte Zusammenstellung „tatsächlich eher dünn ausfällt“. Jedoch könnten bereits „wenige Belege von verfassungsfeindlichen Betätigungen“ Zweifel begründen, die einen Ausschluss rechtfertigen. Beispielsweise, wenn ein Oberbürgermeister-Kandidat den Begriff „Remigration“ nutze, basierend auf dem Konzept der Identitären Bewegung um den vom Verfassungsschutz als Rechtsextremisten eingestuften Martin Sellner. Die Gruppierung verwende den Begriff „in einer eindeutig verfassungsfeindlichen Zielrichtung“ (CORRECTIV berichtete). Der Verfassungsschutz lieferte insgesamt 16 Anhaltspunkte, die er in Bezug auf ein Ausschlussverfahren für „gerichtsverwertbar“ hielt. Mehr als die Hälfte der Punkte beziehen sich auf Aussagen, die Paul in diversen rechten Plattformen und Magazinen veröffentlicht hatte – auch zum Thema „Remigration“. In den übrigen Punkten geht es um seine Veranstaltungen und Verbindungen in die rechtsextreme Szene, auch zu Personen wie Sellner. Der Name Tolkien kommt im ersten Punkt vor. Eindeutig geht es dabei nicht darum, dass Paul den Autor zitiert habe. Stattdessen wird ein Beitrag angeführt, den Paul im rechten österreichischen Freilich-Magazin veröffentlicht hatte. Dort besprach er 2022 die Serie „Die Ringe der Macht“, die auf den Werken Tolkiens beruht. Laut Verfassungsschutz zieht er im Artikel „Parallelen zum Nationalismus und der von der ‘Neuen Rechten’ verfolgten ‘Konservativen Revolution’“. Neue Rechte steht für ein Netzwerk, das mit einer „Kulturrevolution von rechts“ grundlegende politische Veränderungen vorantreiben will. Die Strömung stützt sich hauptsächlich auf das Gedankengut der „Konservativen Revolution“ – eine Intellektuellenströmung in der Weimarer Republik, die damals statt demokratischem Verfassungsstaat eine autoritäre Diktatur anstrebte. Zu den Strategien der Neuen Rechten zählt es, ideologische Positionen und Diskurse gezielt in der Gesellschaft zu platzieren, um Wahlerfolge für rechte Parteien zu ermöglichen. Sie versucht Ideen des Rechtsextremismus zu etablieren, aber grenzt sich vom historischen Nationalsozialismus ab, zum Beispiel, indem ihre Sprache weniger offen rassistisch ist und sie eher die regionale Herkunft in den Fokus setzt. Ogorek beschreibt das so: „Prägend für den Extremismus aus der sog. Neuen Rechten ist, dass er weniger an klassisch-nationalsozialistische Vorstellungen wie die biologische Unterschiedlichkeit von Menschen (‘Untermenschen’) anknüpft, sondern eher Begriffe wie den sog. Ethnopluralismus verwendet.“ Unter Ethnopluralismus versteht man die nationalistische Überzeugung, dass ein Volk in seinen angestammten Grenzen bleiben oder dorthin zurückwandern sollte. Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes legt jedoch fest, dass niemand wegen unter anderem Abstammung, Rasse, Heimat und Herkunft benachteiligt werden darf. Wird zwischen „echten“ Deutschen und „Passdeutschen“ differenziert, ist das laut Ogorek mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht mehr in Einklang zu bringen. Der Verfassungsschutz weist insbesondere auf einen Absatz hin, in dem Paul Parallelen zwischen Tolkiens Werk und aktuellem Nationalismus zieht: Laut Markus Ogorek könnte Pauls Beitrag als Verweis auf sogenannten Ethnopluralismus verstanden werden, einen zentralen Begriff der Neuen Rechten. Das allein belege aus seiner Sicht aber keine verfassungsfeindlichen Positionen. Materialsammlungen des Verfassungsschutzes seien immer in ihrer Gesamtheit sowie eingebettet in kontextuelle Einordnungen zu lesen, schreibt der Rechtswissenschaftler. Buchheit, der ursprüngliche Verbreiter des X-Beitrags, erwähnt neben Tolkien auch das Nibelungenlied. Auch dieses Schlagwort kommt zwar im Bericht des Verfassungsschutzes vor, aber in einem deutlich anderen Kontext, als behauptet. Zwei der 16 Anhaltspunkte beziehen sich darauf, es wird aber an keiner Stelle kritisiert, dass Paul auf die Sage verwies. Erneut geht es um den Kontext: In anderen Punkten werden mögliche verfassungsfeindliche Positionen deutlicher: Demnach soll sich Paul laut Verfassungsschutz Rheinland-Pfalz beispielsweise im November 2023 in einem Vortrag auf die von der Identitären Bewegung geforderte „erzwungene Rückführung“ von Migrantinnen und Migranten in ihre jeweiligen Herkunftsländer bezogen haben. Titel: „Schicksalsfrage Einwanderung – Warum Remigration nötig und machbar ist“. Ein Bericht darüber erschien im Magazin der Deutschen Burschenschaft. Darin stehen Passagen, die auf ethnopluralistische Ideen Bezug nehmen, die Rede ist von „Handlungsperspektiven zur Remigration einzelner Migrantengruppen“. Ein expliziter Bezug zur Identitären Bewegung fehlt aber im Artikel. Jedoch heißt es im Bericht des Verfassungsschutzes Rheinland-Pfalz auch: „Aufgrund des Social-Media-Auftritts Pauls kann von einer weiteren Vernetzung mit Sellner ausgegangen werden.“ Dass Paul den als Rechtsextremisten eingestuften Sellner getroffen hat, zeigt ein Beitrag auf Instagram. Über Pauls Nähe zu Sellner berichtete CORRECTIV hier. Der Verfassungsschutz Rheinland-Pfalz listete weitere Fälle, bei denen Rechtsextreme sich auf Pauls Veranstaltungen vernetzen konnten. Im Mai etwa sollen ehemalige Mitglieder der im November 2024 aufgelösten „Revolte Rheinland“ zusammen mit der „Jungen Alternative“ den sogenannten Stolzmonat gefeiert haben, eine rechtskonservative Gegenveranstaltung zum Pride Month, bei dem jedes Jahr im Juni sexuelle Vielfalt gefeiert wird. Schließlich weist der Verfassungsschutz in dem Bericht auf einen AfD-internen Vorfall hin. Medienberichten zufolge, die von Paul bestätigt wurden, wurde er Ende 2023 vorübergehend von der Partei für alle parteipolitischen Ämter gesperrt. Wie der SWR berichtete, soll er auf einem Foto bei einer Veranstaltung mit Parteichef Chrupalla ein Handzeichen gemacht haben, das als Erkennungszeichen in der rechtsextremen Szene gilt und die Überlegenheit weißer Menschen impliziert. Paul bestritt diese Absicht hinter seiner Geste. Fazit: Paul wurde nicht wegen eines Tolkien-Zitats oder anderen literarischen Zitaten von der Kandidatur ausgeschlossen. Der Wahlausschuss begründete seine Entscheidung aufgrund mehrerer Beispiele mit Zweifeln an Pauls Verfassungstreue, vor allem in Zusammenhang mit seiner Nutzung des Begriffes Remigration. Auch seine Kontakte zu Martin Sellner, zur Identitären Bewegung und allgemein in rechtsextreme Kreise spielten eine Rolle. Redigatur: Steffen Kutzner, Sarah Thust
Sara Pichireddu
AfD-Politiker Joachim Paul darf bei der Oberbürgermeister-Wahl in Ludwigshafen nicht antreten. Über den Grund kursiert im Netz eine schräge Behauptung.
[ "Faktencheck", "Politik" ]
Politik
2025-09-10T17:30:51+02:00
2025-09-10T17:30:51+02:00
2025-10-21T15:14:02+02:00
Der AfD-Politiker Joachim Paul sei wegen literarischer Zitate von Tolkien und aus dem Nibelungenlied von der Oberbürgermeister-Wahl in Ludwigshafen ausgeschlossen worden.
Markus Buchheit, AfD-Abgeordneter im EU-Parlament
2025-06-08 00:00:00
https://x.com/BuchheitMarkus/status/1953084860127485982
Größtenteils falsch
Größtenteils falsch. Der Wahlausschuss entschied auf Grundlage einer Liste des Verfassungsschutzes Rheinland-Pfalz mit 16 Anhaltspunkten, dass Zweifel an der Verfassungstreue des AfD-Politikers bestehen. Der Name Tolkien und das Nibelungenlied werden auf dieser Liste in drei Punkten erwähnt. Sie waren aber nicht alleine ausschlaggebend – und es wird auch nicht beanstandet, dass Paul daraus zitierte, stattdessen erklärte er damit seine Ideale: Der Verfassungsschutz verweist in anderen Punkten auf Pauls Nutzung des Begriffs Remigration in verfassungsfeindlichem Sinne und seine Nähe zu Rechtsextremismus.
https://correctiv.org/faktencheck/2025/09/10/ob-wahl-in-ludwigshafen-nein-afd-politiker-joachim-paul-wurde-nicht-wegen-tolkien-zitat-ausgeschlossen/
OB-Wahl Ludwigshafen: Wer ausgeschlossenen AfD-Kandidaten auf Stimmzettel schreibt, macht ihn ungültig
Angeblich soll es möglich sein, den von der Oberbürgermeisterwahl in Ludwigshafen ausgeschlossenen AfD-Kandidaten Joachim Paul trotzdem zu wählen. Dafür müsse man seinen Namen handschriftlich auf dem Stimmzettel ergänzen. Wieso das nicht stimmt. von Max Bernhard Am 21. September wird in Ludwigshafen eine neue Oberbürgermeisterin oder ein neuer Oberbürgermeister gewählt. Der AfD-Kandidat und rheinland-pfälzische Landtagsabgeordnete Joachim Paul wurde zuvor von der Wahl ausgeschlossen. Wegen Zweifeln an der Verfassungstreue hatte der Wahlausschuss seine Kandidatur nicht zugelassen. Diese Entscheidung wurde später vom Oberverwaltungsgericht bestätigt. Paul möchte weiter rechtlich gegen die Entscheidung vorgehen. Nach Pauls Ausschluss heißt es in verschiedenen Beiträgen in Sozialen Netzwerken, dass man den AfD-Kandidaten trotzdem wählen könne: „Einfach Joachim Paul mit auf den Wahlzettel schreiben!“, schreibt ein Nutzer auf X. „Wählt AfD. Ob sie auf dem Wahlzettel stehen oder nicht“, ein anderer. Auch die ehemalige Politikerin Vera Lengsfeld, die inzwischen für rechtsgerichtete Medien tätig ist, rief dazu auf. In einem späteren Beitrag korrigierte sie sich, ließ den ursprünglichen Aufruf jedoch unverändert. Ähnliche Behauptungen verbreiten sich auch zur OB-Wahl in Lage in Nordrhein-Westfalen, wo ein AfD-Kandidat aus demselben Grund ausgeschlossen wurde. Viele der Beiträge verweisen auf einen Fall in Bayern, bei dem ein Mann zum Oberbürgermeister gewählt worden sei, der zuvor gar nicht auf dem Stimmzettel gestanden habe. Die Wählenden hätten ihn einfach dazugeschrieben. Unsere Recherche zeigt: Den Fall in Bayern gab es tatsächlich. Ist das also auch bei den kommenden Wahlen in Ludwigshafen und Lage möglich? Nein – und wer so vorgeht, macht seine Stimme ungültig. „Zusätze, Vorbehalte oder andere Beifügungen auf dem Stimmzettel – dazu zählen auch Streichungen oder das Hinzufügen von Namen – führen grundsätzlich zur Ungültigkeit der Stimme“, erklärt uns Simone Müller von der Stadt Ludwigshafen auf Nachfrage. Das ist in Paragraf 38 Absatz 1 des Kommunalwahlgesetzes Rheinland-Pfalz geregelt. Auch die Landeswahlleiterin in Nordrhein-Westfalen warnt auf ihrer Webseite: „Aktuell wird im Internet folgende Behauptung aufgestellt: Steht eine Kandidatin oder ein Kandidat nicht auf dem Stimmzettel, könne die Stimme für diese Person auch abgegeben werden, indem der Name der Person handschriftlich auf dem Stimmzettel ergänzt wird. Hierbei handelt es sich um eine Falschinformation.“ Die Stimme werde so ungültig. Den Vorfall aus Bayern, auf den viele der Beiträge mit der Behauptung verweisen, gab es tatsächlich. „In einer bayerischen Stadt wurde ein Mann zum Bürgermeister gewählt, dessen Name gar nicht auf dem Wahlzettel stand“, heißt es in einem Artikel der Nachrichtenplattform Kommunal von September 2024. Möglich ist das in Bayern, „sofern nur ein Kandidat benannt ist“, wird in dem Artikel erklärt. Das stimmt. In Artikel 40 des bayerischen Gemeinde- und Landkreiswahlgesetzes heißt es: „Wird kein oder nur ein Wahlvorschlag zugelassen, wird die Wahl ohne Bindung an eine vorgeschlagene sich bewerbende Person durchgeführt.“ Auch auf einem Stimmzettel-Muster für so einen Fall wird darauf verwiesen, dass eine Kandidatin oder ein Kandidat handschriftlich eingetragen werden kann. So eine Regelung gibt es auch in Rheinland-Pfalz, wie uns Müller von der Stadt Ludwigshafen auf Nachfrage schreibt. In Paragraf 30 Absatz 2 Kommunalwahlgesetz Rheinland-Pfalz heißt es: „Ist nur ein Wahlvorschlag zugelassen worden, so vergibt der Wähler seine Stimmen durch Ankreuzen oder eine andere eindeutige Kennzeichnung der auf dem Stimmzettel aufgeführten Bewerber, die er wählen will. […] Er kann auf dem Stimmzettel andere wählbare Personen eintragen und auch Bewerber streichen.“ Das sei bei der Wahl in Ludwigshafen aber nicht der Fall. Zur Wahl im September sind dort vier Personen zugelassen. In Nordrhein-Westfalen gibt es keine solche Regelung. Das Hinzufügen oder Durchstreichen des Namens einer Kandidatin oder eines Kandidaten ist also in jedem Fall unzulässig. Redigatur: Paulina Thom, Steffen Kutzner
Max Bernhard
Online kursiert der irreführende Aufruf, den von der OB-Wahl in Ludwigshafen ausgeschlossenen Joachim Paul auf den Stimmzettel zu schreiben.
[ "Faktencheck", "Politik" ]
Politik
2025-09-05T16:58:01+02:00
2025-09-05T16:58:01+02:00
2025-09-15T21:55:13+02:00
Bei der Wahl zur Oberbürgermeisterin oder zum Oberbürgermeister in Ludwigshafen am 21. September könne der ausgeschlossene AfD-Kandidat Joachim Paul gewählt werden, indem sein Name auf den Wahlzettel geschrieben werde. Das zeige ein Fall aus Bayern.
Beiträgen in Sozialen Netzwerken, Vera Lengsfeld
2025-09-25 00:00:00
Falsch
Falsch. Das Hinzufügen eines Namens oder anderer Zusätze macht die Stimme laut dem Kommunalwahlgesetz Rheinland-Pfalz ungültig. Der Fall aus Bayern beruht auf einer Sonderregelung, wenn es nur eine vorgeschlagene Kandidatin oder Kandidaten gibt. So eine Regelung gibt es auch in Rheinland-Pfalz. Für die Wahl im September 2025 hat sie jedoch keine Relevanz, dort gibt es vier Kandidatinnen und Kandidaten.
https://correctiv.org/faktencheck/2025/09/05/ob-wahl-ludwigshafen-wer-ausgeschlossenen-afd-kandidaten-auf-stimmzettel-schreibt-macht-ihn-ungueltig/
Sommerinterview mit Friedrich Merz: Aussagen zu Krankheitstagen und Arbeitszeiten im Faktencheck
Im Sommerinterview beim ZDF sprach Bundeskanzler Friedrich Merz über Steuererhöhungen und den Zustand der deutschen Wirtschaft. Wir nehmen unter anderem seine Aussage zum Krankenstand und zur Zahl der geleisteten Arbeitsstunden unter die Lupe. von Paulina Thom , Matthias Bau Friedrich Merz gab am 31. August sein zweites Sommerinterview. Diesmal war er nicht bei der ARD, sondern im ZDF zu Gast. Mit der Moderatorin Diana Zimmermann sprach er unter anderem über Steuererhöhungen und die deutsche Wirtschaft. Dabei standen Themen wie Krankheitstage in Deutschland, sowie geleistete Arbeitsstunden und die Arbeitskosten im Fokus, aber auch zum Rückhalt für Merz in der Koalition stellte Zimmermann mehrere Fragen. Das Sommerinterview mit Merz war das letzte der Reihe – wir haben uns auch bei vergangenen die Sachlage zu einigen Äußerungen angesehen, etwa bei Alice Weidel, Markus Söder oder Bärbel Bas. „Wir haben uns in diesem Koalitionsvertrag darauf verständigt, dass die Steuern nicht erhöht werden und dieser Koalitionsvertrag gilt.“ Bewertung: Fehlender Kontext Zu Beginn des Sommerinterviews ging es um Steuererhöhungen. Der Regierungskoalition fehlen für den Haushalt 2027 laut Finanzminister Lars Klingbeil rund 30 Milliarden Euro. Klingbeil hatte daher zuletzt Steuererhöhungen nicht ausgeschlossen. Von Merz will Zimmermann im Interview wissen, ob er „Steuererhöhungen vom Tisch nehme“. Merz antwortete darauf, dass sich CDU, CSU und SPD im Koalitionsvertrag darauf geeinigt hätten, Steuern nicht zu erhöhen. Im Koalitionsvertrag ist davon jedoch nichts zu lesen. Zwar werden einige Beispiele für Steuersenkungen genannt, zum Beispiel die Senkung der Stromsteuer oder der Einkommenssteuer für kleine und mittlere Einkommen, gleichzeitig werden Steuererhöhungen aber an keiner Stelle ausgeschlossen. Und selbst wenn, dann hätte das rechtlich auch keinerlei Bedeutung, da der Koalitionsvertrag kein Vertrag im juristischen Sinne ist. Das wäre auch nicht sinnvoll, da die Bundesregierung in der Lage sein muss, auf unvorhergesehene Ereignisse und Situationen reagieren zu können. Der Koalitionsvertrag ist als Absichtserklärung zu verstehen, die Transparenz über die Vorhaben der Regierung schaffen soll. Wenig später sagte Merz im Interview, man habe über das Thema Steuererhöhungen „lange in den Koalitionsverhandlungen diskutiert“. Dabei hätten sowohl Markus Söder als auch er betont, dass man keinen Koalitionsvertrag „mit Steuererhöhungen“ unterschreibe. „Wir haben mit einen der höchsten Krankenstände in ganz Europa.“ Bewertung: Fehlender Kontext. Im weiteren Verlauf des Interviews fragt Zimmermann Friedrich Merz, ob er der Meinung sei, man müsse bis ins Alter von 70 Jahren arbeiten. Merz holt daraufhin aus und stellt zunächst verschiedene Behauptungen zum Zustand der deutschen Wirtschaft auf. Darunter die Behauptung, Deutschland habe einen „der höchsten Krankenstände in ganz Europa“. Eine konkrete Quelle für diese Aussage führte der Kanzler nicht an. Daten des Statistischen Bundesamtes zeigen: 2024 waren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland durchschnittlich 14,8 Arbeitstage krank gemeldet. Von 2021 auf 2022 gab es zudem einen deutlichen Anstieg der Krankentage: Forscher des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung Mannheim (ZWE) führten diesen Anstieg vor allem darauf zurück, dass es eine verbesserte statistische Erfassung durch die Einführung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) gegeben habe. Doch wie steht Deutschland damit im europäischen Vergleich da? Laut einer Analyse des Forschungsinstituts Iges von Januar 2025, die auf Daten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) beruht, hatte Deutschland 2022 mit 24,9 Tagen die meisten bezahlten, krankheitsbedingten Fehltage in Europa. Das Iges verglich krankheitsbedingte Fehlzeiten auf europäischer Ebene im Auftrag der Krankenkasse DAK. Allerdings ist es laut Fachleuten irreführend, nur diese Daten heranzuziehen, denn die Statistik weist Lücken auf: In keinem Land seien die bezahlten Fehlzeiten vollständig erfasst worden und der Grad der Untererfassung zwischen den Ländern unterscheide sich stark. Das hänge von den jeweiligen Prozessen der Lohnfortzahlung, Krankschreibung und dem Meldeverfahren ab. In Deutschland gebe es durch die eAU aber nahezu eine Vollerhebung. Zudem enthalten die Daten nur bezahlte Fehltage. Die Regelungen zur Lohnfortzahlung sind in Europa aber unterschiedlich. In Deutschland haben Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Krankheitsfall für sechs Wochen Anspruch auf 100 Prozent ihres Lohns. Anders ist das laut den ZWE-Wissenschaftlern beispielsweise in Schweden. Dort gibt es „einen Karenztag, der gänzlich unbezahlt bleiben kann. Danach greift eine Lohnfortzahlung von 80 Prozent von bis zu zwei Wochen.“ Arbeitnehmer in Estland, Frankreich, Irland, Italien, Portugal und Spanien haben laut Iges drei unbezahlte Karenztage, bevor die Lohnfortzahlung oder Krankengeldzahlung einsetzt. All diese Fehltage werden in den Daten nicht berücksichtigt. Eine andere Untersuchung der OECD wertet aus, wie viel Arbeitszeit anteilig an der Wochenarbeitszeit durch Krankheit verloren geht. Die Untersuchung beruht auf Umfragen, in Deutschland etwa durch den Mikrozensus. Hier landet Deutschland im europäischen Vergleich im oberen Mittelfeld. Die Daten beziehen sich auf 2023. „Wir arbeiten 200 Stunden weniger als die Schweizer.“ Bewertung: Fehlender Kontext Bereits im Mai hatte Merz in seiner ersten Regierungserklärung gefordert, Menschen in Deutschland müssten wieder mehr und effizienter arbeiten. Im Sommerinterview wiederholte er diese Forderung. Wir würden 200 Stunden weniger als die Schweizer arbeiten, sagte der Bundeskanzler. Eine Google-Suche mit diesen Stichwörtern führt zu einer Auswertung des arbeitgebernahen Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW), die auf Daten der OECD von 2023 beruht. Demnach haben Menschen in Deutschland im Schnitt knapp 200 Stunden weniger gearbeitet als Menschen in der Schweiz, nämlich 1.335 Stunden im Vergleich zu 1.530. Hierfür wird die Gesamtzahl der tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden in einem Jahr durch die durchschnittliche Anzahl der Beschäftigten in diesem Jahr geteilt. Unter allen 38 OECD-Ländern landete Deutschland damit auf dem letzten Platz. Das IW hat diese Zahlen auf alle Einwohner im Erwerbsalter, also zwischen 15 und 64 Jahren, und nicht nur auf Beschäftigte umgerechnet: So landet Deutschland 2023 mit im Schnitt 1.036 Arbeitsstunden auf dem drittletzten Platz, vor Frankreich und Belgien. Doch diese Zahlen sind nicht aussagekräftig. Wie es auf der Webseite der OECD heißt, dienen die Daten dem Vergleich von Trends im Zeitverlauf. Ungeeignet seien sie dagegen für Vergleiche der durchschnittlichen Arbeitszeit eines bestimmten Jahres – also genau dem, was Merz daraus macht. Auch die Auswertung des IW stand deswegen bereits mehrfach in der Kritik. Das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) bezeichnete sie als „Unstatistik des Monats“. Der Ländervergleich ist demnach irreführend. Zum einen umfasst die Statistik „die regulären Arbeitsstunden von Vollzeit-, Teilzeit- und Saisonarbeitskräften, bezahlte und unbezahlte Überstunden sowie die in Nebentätigkeiten geleisteten Stunden“. Doch deren Anteile variierten je nach Land, was bei der Berechnung eines Durchschnitts unterschlagen werde. Dabei steigt die Erwerbsbeteiligung in Deutschland laut RWI „erheblich an“, weil immer mehr Menschen in den Arbeitsmarkt einsteigen, aber nur in Teilzeit. Das seien vor allem Frauen, Studierende und ältere Menschen. Katharina Hölzl, Leiterin des Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation, sagte dem SWR im Mai, würde man die Teilzeitquote richtig gewichten, stünde Deutschland im Mittelfeld des Rankings. Auch fehle dem Vergleich der Arbeitsstunden über zehn Jahre Kontext. So heißt es beim IW, im Unterschied zu Spanien, Griechenland oder Polen stagnierten in Deutschland die Arbeitsstunden. Doch die Zahl der Arbeitsstunden je Einwohner im Erwerbsalter sei nicht aussagekräftig in Bezug auf die Frage, ob in Deutschland ausreichend und effizient genug gearbeitet werde, schreibt das RWI. „Relevant ist der Kontext: Produktivität, Erwerbsbeteiligung, strukturelle Hürden.“ Eine Auswertung des RWI mittels der inflations- und kaufkraftbereinigten Arbeitsproduktivität zeigt: Im Unterschied zu Ländern wie Spanien, Griechenland oder Polen schneidet Deutschland – trotz weniger Arbeitsstunden – besser ab. Die inflations- und kaufkraftbereinigte Arbeitsproduktivität misst, wie viel Bruttoinlandsprodukt pro Erwerbstätigen und geleistete Stunde erwirtschaftet wird. Statt auf die Arbeitszeit-Debatte verweist das RWI auf die strukturellen Probleme auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Dazu zählten neben dem demografischen Wandel, die Arbeitsmigration und -integration oder auch die vielen Mütter in der sogenannten „Minijob-Falle“. „Wir haben mit die höchsten Arbeitskosten in ganz Europa, verglichen mit Amerika ohnehin.“ Bewertung: Größtenteils richtig Auch die Höhe der Arbeitskosten bemängelte Merz im Sommerinterview: Sie seien mit die höchsten in Europa und höher als in Amerika. Die Arbeitskosten setzen sich aus den Bruttoverdiensten und den Lohnnebenkosten, also zum Beispiel Arbeitgeberbeiträgen zur Sozialversicherung, zusammen. Laut dem Statistischen Bundesamt kostete eine Arbeitsstunde in Deutschland 2024 durchschnittlich 43,40 Euro, damit lagen die Arbeitskosten 2024 rund 30 Prozent höher als im EU-Durchschnitt. Seit 2022 sei der relative Abstand zum EU-Durchschnitt fast gleich geblieben. Im EU-Vergleich landet Deutschland damit auf Rang 7. Noch höher sind die Arbeitskosten etwa in Luxemburg, Belgien oder Frankreich. Der prozentuale Anstieg der Arbeitskosten im Vergleich zum Vorjahr lag in Deutschland demnach im EU-Durchschnitt (plus 5 Prozent). In Luxemburg und Belgien sind die Arbeitskosten vor allem wegen der Lohnindexierung hoch, die Löhne werden dort automatisch an die Inflation angepasst. In Frankreich werden hauptsächlich hohe Sozialabgaben für das Niveau der Arbeitskosten verantwortlich gemacht. Auch in Deutschland stehen die Lohnnebenkosten häufig in der Kritik, Deutschland als Wirtschaftsstandort unattraktiv zu machen. Allerdings zeigt eine Auswertung von Eurostat von März 2025: Deutschland liegt bei den Lohnnebenkosten mit einem Anteil von 23,3 Prozent an den gesamten Arbeitskosten unter dem EU-Durchschnitt von 24,7 Prozent. In Frankreich haben die Lohnnebenkosten einen Anteil von 32,2 Prozent, in Schweden 31,6 Prozent. Für die USA gibt es keinen jährlichen Schnitt der Arbeitskosten, sie werden vierteljährlich vom Bureau of Labor Statistics veröffentlicht (Download). Nimmt man diese Zahlen für die Privatwirtschaft als Grundlage, kostete eine Arbeitsstunde 2024 im Schnitt etwa 44,20 Dollar. Umgerechnet mit dem Jahreswechselkurs von 2024 landet man bei etwa 40,80 Euro. Der Anteil für Sozialabgaben bewegte sich zwischen 29,5 und 29,7 Prozent. Das liegt also unter den durchschnittlichen 43,40 Euro Arbeitskosten in Deutschland. Unabhängig davon halten einige Experten die Arbeitskosten allein für die Wettbewerbsfähigkeit eines Standortes nicht für aussagekräftig. Gegenüber dem ZDF erklärte Alexander Herzog-Stein von dem gewerkschaftsnahem Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung, dass die Arbeitskosten immer ins Verhältnis zur Arbeitsproduktivität gesetzt werden müssten. Ein Faktor, der das abbildet, sind die Lohnstückkosten. Bei denen lag Deutschland in einer Auswertung des IMK der Jahre 2020 bis 2023 im europäischen Durchschnitt. Die CDU-Pressestelle reagierte bis zur Veröffentlichung inhaltlich nicht auf eine Anfrage mit unseren Rechercheergebnissen. Update, 8. September 2025: Wir haben im Text ergänzt, dass die CDU inhaltlich nicht auf unsere Presseanfrage reagierte. Redigatur: Kimberly Nicolaus, Steffen Kutzner, Sophie Timmermann
Paulina Thom
Merz lehnte Steuererhöhungen mit Verweis auf den Koalitionsvertrag ab und kritisierte hohe Krankenstände in Deutschland. Wir ordnen ein.
[ "Hintergrund", "Politik" ]
2025-09-05T14:26:56+02:00
2025-09-05T14:26:56+02:00
2025-09-09T12:14:42+02:00
https://correctiv.org/faktencheck/hintergrund/2025/09/05/sommerinterview-mit-friedrich-merz-aussagen-zu-krankheitstagen-und-arbeitszeiten-im-faktencheck/
CDU-Generalsekretär Linnemann hinterlässt falschen Eindruck zur Beschäftigungsquote von Geflüchteten
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann behauptet, seit 2015 seien 6,5 Millionen Menschen nach Deutschland gekommen und weniger als die Hälfte sei in Arbeit. Das stimmt nicht. von Paulina Thom Zehn Jahre ist es her, als die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte: „Wir schaffen das!“ Damals kamen binnen eines Jahres mehr als eine Million Geflüchtete nach Deutschland, anfangs vorrangig aus dem vom Bürgerkrieg betroffenen Syrien. In der Politik ziehen einige aktuell eine kritische Bilanz, darunter auch CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann. Im Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung sagte er: „Seit 2015 sind 6,5 Millionen Menschen zu uns gekommen und weniger als die Hälfte ist heute in Arbeit. Ich finde das, gelinde gesagt, nicht zufriedenstellend.“ Linnemann suggeriert mit seiner Äußerung, dass mehr als drei Millionen Geflüchtete in Deutschland nicht arbeiten würden. Das stimmt nicht. Er bezieht Zahlen zur Beschäftigung und zu eingewanderten Menschen irreführend aufeinander. Sowohl Auswertungen zur Beschäftigung aller seit 2015 nach Deutschland Zugewanderten als auch konkret zu Geflüchteten zeichnen zudem ein anderes Bild. Auch wenn Linnemann nicht konkret von Geflüchteten spricht, legen der Kontext des Interviews zu Merkels Flüchtlingspolitik sowie eine Antwort der CDU-Pressestelle dies nahe. Denn auf Nachfrage nach einer Quelle verweist Pressesprecher Armin Peter auf eine Statistik der Bundesagentur für Arbeit über „Beschäftigte aus den acht nichteuropäischen Asylherkunftsländern“. Dazu zählen Afghanistan, Syrien, Irak, Iran, Nigeria, Pakistan, Somalia und Eritrea. Aus diesen Ländern gab es zwischen 2012 und 2014 und im ersten Quartal 2015 die meisten Asylerstanträge, daher sind sie Grundlage der Statistik. Im Mai 2025 lag die Beschäftigungsquote von erwerbsfähigen Menschen (15 bis unter 65 Jahre alt) aus diesen Ländern bei etwa 47,6 Prozent, das entspricht rund 760.000 Menschen in Arbeit. Anders als Linnemann behauptet, bezieht sich diese Quote also nicht auf 6,5 Millionen, sondern auf etwa 1,6 Millionen Menschen. Zudem gibt die Statistik keine Auskunft darüber, wann die Menschen nach Deutschland kamen und sie umfasst auch Länder, die bei den starken Fluchtbewegungen seit 2015 eher eine untergeordnete Rolle gespielt haben – zum Beispiel Pakistan. Und in der Statistik werden auch Menschen gezählt, die nicht geflohen sind. Unabhängig davon ergibt es keinen Sinn, diese Beschäftigungsquote – wie Linnemann es macht – auf 6,5 Millionen Menschen anzuwenden, die gar nicht alle aus den genannten Ländern stammen. Woher die Angabe von 6,5 Millionen Menschen seit 2015 stammt, erfuhren wir, trotz mehrfacher Nachfrage bei der CDU-Pressestelle, nicht. Die Zahl findet sich aber beim Statistischen Bundesamt. Demnach sind so viele Menschen seit 2015 nach Deutschland eingewandert. Doch nur etwa ein Drittel (31 Prozent) von ihnen hat als Grund für die Einwanderung Flucht, Asyl oder internationalen Schutz angegeben. Insgesamt 31 Prozent kamen laut eigener Aussage wegen einer Arbeit, einer Beschäftigung, eines Studiums oder einer Ausbildung nach Deutschland und weitere 27 Prozent kamen im Rahmen der Familienzusammenführung oder Familiengründung nach Deutschland. Dass es sich bei den 6,5 Millionen Menschen nicht nur um Geflüchtete handelt, zeigen auch die Angaben zu ihren Herkunftsländern. Zwar sind die Ukraine (seit 2022: 843.000) und Syrien (seit 2015: 840.000) laut Statistischem Bundesamt die Hauptherkunftsländer, doch viele Menschen kamen seit 2015 auch aus Rumänien (300.000) oder Polen (230.000). Auch sind nicht alle der 6,5 Millionen Menschen erwerbsfähig: Wie wir mehrfach berichteten, sind etwa ein Viertel der aus der Ukraine Geflohenen unter 18 Jahre alt, auch ein Drittel der Visa im Rahmen des Familiennachzugs gingen 2024 an Minderjährige. Wie viele der seit 6,5 Millionen Zugewanderten arbeiten? Auf Anfrage der DPA-Faktencheckredaktion schlüsselte das Statistische Bundesamt hierfür Zahlen aus dem Mikrozensus (Download, Tabellenblatt 12211-31) auf: Demnach gaben 60 Prozent der seit 2015 eingewanderten Menschen im erwerbsfähigen Alter eine Erwerbstätigkeit an, 7 Prozent waren erwerbslos und 33 Prozent zählten sich als Nichterwerbsperson. Dazu gehören Schüler, Studenten, ältere Menschen oder Personen, die im Haushalt tätig sind. Diese Quote liegt also höher als die von Linnemann genannte. Die CDU-Pressestelle reagierte auf unsere Rechercheergebnisse nicht mehr. Zum Jahresende 2024 lebten in Deutschland laut Statistischem Bundesamt insgesamt 3,3 Millionen Schutzsuchende, etwa ein Viertel von ihnen sind Minderjährige. Beschäftigungsdaten ausschließlich zu Geflüchteten gibt es laut dem Mediendienst Integration nicht. Ein Bericht des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) kommt jedoch zu dem Schluss, dass die Beschäftigungsquote von Geflüchteten, die im Jahr 2015 nach Deutschland kamen, höher liegt als von Linnemann angegeben. Das IAB befragt seit 2016 jährlich Menschen, die als Schutzsuchende nach Deutschland gezogen sind und verknüpft die Umfragedaten mit den Sozialversicherungsdaten. 2024 lag die Beschäftigungsquote bei 64 Prozent und damit nur noch leicht unter dem bundesdeutschen Durchschnitt von 70 Prozent. Wie wir bereits mehrfach berichtet haben, steigt mit zunehmender Aufenthaltsdauer von Geflüchteten auch deren Beschäftigungsquote. Insbesondere ukrainische Geflüchtete sind erst seit maximal 3,5 Jahren in Deutschland. Ihre Beschäftigungsquote lag laut einem Bericht des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung von Oktober 2024 bei damals 30 Prozent und ist damit nicht ungewöhnlich, wie folgende IAB-Grafik zeigt: „Staatliche Maßnahmen – von beschleunigten Asylverfahren über Integrations- und Sprachkurse bis hin zu arbeitsmarktpolitischer Unterstützung – haben gewirkt“, schreiben die Autorinnen und Autoren des IAB-Berichts. Allerdings gebe es weiterhin Herausforderungen bei der beruflichen Integration von Frauen und älteren Menschen sowie beim Verdienstniveau, das deutlich unter dem Median aller Vollzeitbeschäftigten in Deutschland liegt. Eine Beschäftigungsquote von 64 Prozent unter den 2015 zugezogenen Schutzsuchenden sei „keineswegs selbstverständlich“, heißt es in dem IAB-Bericht. Geflüchtete hätten besondere Herausforderungen beim Einstieg in eine Beschäftigung. Hierzu zählen Belastungen, etwa traumatische Erfahrungen durch Krieg, Vertreibung und Flucht, sowie eine fehlende Vorbereitung auf die Migration, die sich etwa in fehlenden Kenntnissen der Sprache des Ziellandes zeige. Hinzukämen geringe oder aufgrund der Unterschiede in den Bildungssystemen schwer übertragbare Ausbildungs- und Bildungsabschlüsse und zuletzt institutionelle Faktoren in den Zielländern, wie die Dauer der Asylverfahren, Beschäftigungsverbote in der ersten Ankunftsphase, Wohnsitzauflagen und Diskriminierung. Laut dem Mediendienst Integration mussten viele Geflüchtete, die 2015 und 2016 eingereist sind, fast ein Jahrzehnt in Flüchtlingsunterkünften leben. Redigatur: Steffen Kutzner, Kimberly Nicolaus
Paulina Thom
Der CDU-Generalsekretär behauptet fälschlich, von 6,5 Millionen nach Deutschland gekommenen Menschen seien weniger als die Hälfte in Arbeit.
[ "Faktencheck", "Migration", "Politik" ]
Migration
2025-09-03T17:47:41+02:00
2025-09-03T17:47:41+02:00
2025-09-23T19:10:42+02:00
Seit 2015 seien 6,5 Millionen Menschen nach Deutschland gekommen und weniger als die Hälfte sei in Arbeit.
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann
2025-08-25 00:00:00
Teilweise falsch
Teilweise falsch. Seit 2015 kamen 6,5 Millionen Menschen nach Deutschland, darunter Geflüchtete, Personen, die für eine Ausbildung oder eine Arbeit kamen, oder Kinder – egal woher. Von denjenigen, die darunter im erwerbsfähigen Alter sind, gehen laut Daten des Mikrozensus rund 60 Prozent einer Beschäftigung nach. Linnemann wendet stattdessen offenbar auf die Gruppe der 6,5 Millionen Menschen fälschlich die Beschäftigungsquote von Personen aus einem der acht häufigsten nichteuropäischen Asylherkunftsländern an. Diese Quote liegt zwar bei etwa der Hälfte, allerdings umfasst sie auch Personen, die nicht geflohen oder bereits vor 2015 nach Deutschland gekommen sind.
https://correctiv.org/faktencheck/2025/09/03/cdu-generalsekretaer-linnemann-hinterlaesst-falschen-eindruck-zur-beschaeftigungsquote-von-gefluechteten/
Sommerinterview mit Markus Söder: Aussagen zu ukrainischen Geflüchteten im Faktencheck
Am 24. August war Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) im ARD-Sommerinterview. Er wiederholte falsche und unbelegte Aussagen zu ukrainischen Geflüchteten und Bürgergeld. Wir ordnen sie ein. von Sara Pichireddu Aktuell laufen die traditionellen Sommerinterviews von ZDF und ARD mit deutschen Spitzenpolitikerinnen und -politikern. Am 24. August 2025 war in der ARD der CSU-Parteivorsitzende und bayerische Ministerpräsident Markus Söder zu Gast. Im Gespräch mit Moderatorin Anna Engelke ging es unter anderem um den Umgang mit ukrainischen Geflüchteten in Deutschland. Söder will die Sonderregelung, mit der Ukrainerinnen und Ukrainer Bürgergeld statt Unterstützung für Asylbewerbende bekommen, abschaffen. Das begründet er mit falschen und unbelegten Aussagen. CORRECTIV.Faktencheck ordnet sie ein. „Das System jetzt führt dazu, dass Deutschland im internationalen Vergleich viel weniger Menschen hat aus der Ukraine, die arbeiten könnten. […] Das ist doch echt absurd, was wir in Deutschland machen. Da haben wir gut ausgebildete Leute, setzen aber Anreize, dass sie nicht arbeiten. Das macht nur Deutschland so. Keiner in Europa versteht das.“ Bewertung: Größtenteils falsch Schon in seinem ersten Sommerinterview dieses Jahr am 3. August sprach Markus Söder über Ukrainerinnen und Ukrainer in Deutschland. Dass wegen des Bürgergelds in Deutschland im internationalen Vergleich besonders wenige von ihnen arbeiten würden, stimmt nicht, wie wir schon damals schrieben. Auch im aktuellen Sommerinterview mit der ARD wiederholt er bei Minute 27.40 seine falsche Behauptung. In einer im November 2024 veröffentlichten Studie untersuchte die Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit, das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), die Situation ukrainischer Geflüchteter im europäischen Vergleich. Demnach lag Deutschland mit einer Beschäftigungsquote von etwa 27 Prozent im ersten Quartal 2024 unter Ukrainerinnen und Ukrainern „im europäischen Mittelfeld“. Seit 2023 stieg die Quote laut der Bundesagentur für Arbeit. Im Mai 2025 hatten demnach knapp 35 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer eine Arbeit. Der Großteil von ihnen war sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Söders Behauptung, das mache „nur Deutschland so“ bezieht sich auf die aktuelle Rechtslage in Deutschland, wonach geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer Anspruch auf das Bürgergeld haben. Sie unterliegen dabei den gleichen Regeln wie alle anderen Empfängerinnen und Empfänger auch. Das heißt, sie müssen umfangreiche Aussagen zu ihrem Vermögen machen, erreichbar sein und Termine und Maßnahmen wahrnehmen. Deutschland ist nicht das einzige Land, das die Unterstützung für Ukrainerinnen und Ukrainer mit einer Sonderregelung sichert: In fast allen EU-Staaten haben ukrainische Geflüchtete einen besonderen Schutzstatus, in manchen erleichtert ihnen das den Zugang zum Arbeitsmarkt. In Belgien erhalten sie darüber hinaus beispielsweise staatliche Sozialhilfe. „Wir haben da noch eine Menge Arbeit, Sparpotential und auch Veränderungen, die durchzusetzen sind. Denken Sie an das Thema Rechtskreiswechsel beim Thema Ukraine, damit auch mehr Menschen aus der Ukraine arbeiten.“ Bewertung: Unbelegt Dass Geflüchtete aus der Ukraine Bürgergeld bekommen, soll jedoch geändert werden, wie im Koalitionsvertrag festgeschrieben ist. Demzufolge sollen Geflüchtete aus der Ukraine, die nach dem 1. April 2025 ins Land gekommen sind, künftig, so wie Asylwerbende aus anderen Ländern, Anspruch auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz haben. Über diesen „Rechtskreiswechsel“ spricht auch Söder im Sommerinterview (ab Minute 27). Er will weiter gehen als die Koalition und die Leistungen auch für jene begrenzen, die schon vor April 2025 nach Deutschland kamen. Durch die damit verbundene Leistungsminderung – statt 563 Euro im Monat für Alleinstehende nur noch 441 Euro – erhofft er sich mehr Arbeitswillen. Doch für diese Annahme gibt es laut der Studie des IAB keine Belege. Vielmehr spielen demnach vor allem die Kinderbetreuung, soziale Netzwerke und auch gute Englischkenntnisse eine zentrale Rolle für die Integration in den Arbeitsmarkt. Darüber berichteten wir bereits im August 2023 und zuletzt im Juli 2025. Etwas weniger als 700.000 Ukrainerinnen und Ukrainer erhielten im April 2025 Bürgergeld. Das geht aus dem aktuellen „Migrationsmonitor“ der Bundesagentur für Arbeit hervor. Legt man die aktuellsten Zahlen des Statistischen Bundesamtes vom 31. Dezember 2024 zu Grunde, beziehen von rund 1,1 Millionen ukrainischen Menschen etwa 64 Prozent Bürgergeld. Narrative, die mit dieser oder ähnlichen Zahlen Stimmung gegen Geflüchtete machen wollen, gibt es immer wieder. Wie wir bereits in diesem Faktencheck zeigten, ist die Quote aber kein Hinweis auf Arbeitsverweigerung oder gescheiterte Integration. Wir haben schon 2023 unter anderem mit Moritz Kuhn, Professor für Arbeitsökonomie, über die Zahlen und deren Bedeutung gesprochen. Er sagte, dass es vor allem wichtig sei, wie lange sich Menschen bereits in Deutschland befänden: „Menschen arbeiten sich in den Arbeitsmarkt rein“, sagt Kuhn. Mit zunehmender Aufenthaltsdauer steige daher auch die Beschäftigungsquote. Das zeigten auch Veröffentlichungen des IAB: „Mit zunehmender Aufenthaltsdauer steigen die Erwerbstätigenquoten jedoch deutlich an: Im Durchschnitt erreichen sie sechs Jahre nach dem Zuzug 57 Prozent, sieben Jahre nach dem Zuzug 63 Prozent und bei einer Aufenthaltsdauer von acht und mehr Jahren 68 Prozent.“ Dass all das Geld einsparen könne, wie Söder behauptet, ist nicht belegt. Zum Vorschlag der Koalition – der weniger weit geht als Söders Vorschlag – gibt es entsprechende Berechnungen. Laut einem Referentenentwurf vom 8. August aus dem Arbeitsministerium liegen die Ersparnisse für Kommunen, Bund und Länder durch den Rechtskreiswechsel in den Jahren 2026 und 2027 bei knapp 1,7 Milliarden Euro. Demgegenüber stehen aber Mehrkosten von insgesamt knapp 1,8 Milliarden Euro. Dazu kommen noch ein einmaliger Erfüllungsaufwand von 1,3 Millionen Euro. Eine Ersparnis für den Haushalt ist der Vorschlag laut dem Papier also nicht. Weitere Faktenchecks zu den Sommerinterviews 2025 finden Sie unter anderem hier, hier und hier. Korrektur, 29. August 2025: Wir haben im ersten Absatz korrigiert, dass das Sommerinterview mit Söder am 24. August nicht beim ZDF ausgestrahlt wurde, sondern bei der ARD. Redigatur: Steffen Kutzner, Gabriele Scherndl
Sara Pichireddu
Am 24. August war Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) im ARD-Sommerinterview. Seine Aussagen zu ukrainischen Geflüchteten im Faktencheck.
[ "Hintergrund", "Politik" ]
2025-08-28T14:11:12+02:00
2025-08-28T14:11:12+02:00
2025-09-11T22:44:39+02:00
https://correctiv.org/faktencheck/hintergrund/2025/08/28/sommerinterview-mit-markus-soeder-aussagen-zu-ukrainischen-gefluechteten-im-faktencheck/
Sommerinterview mit Jan van Aken: Aussagen zur DDR-Vergangenheit und Vermögenssteuer im Faktencheck
Jan van Aken, Co-Vorsitzender der Linken, war am 17. August zum Sommerinterview bei der ARD. Seine Aussagen haben wir im Faktencheck überprüft. Einige halten einer Überprüfung stand, andere sind falsch oder schwer zu belegen. von Matthias Bau , Sara Pichireddu Am 17. August war Jan van Aken, Co-Vorsitzender der Linken, im ARD-Sommerinterview zu Gast. Seine Aussagen hielten in weiten Teilen einer Überprüfung stand. Manches, was van Aken zu den Nato-Ausgaben, Sanktionen gegen russische Öltanker, Einnahmen durch eine Vermögenssteuer und die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit anderer Parteien sagte, benötigt jedoch weiteren Kontext oder ist in Teilen falsch. CORRECTIV.Faktencheck ordnet – wie auch schon bei vergangenen Sommerinterviews – ein, wie die Sachlage zu einigen Aussagen aussieht. „Aber auch heute […] fährt gerade vor Fehmarn wahrscheinlich ein Tanker längs mit illegalem russischen Öl. Die Einnahmen aus dem Ölverkauf gehen direkt in die Kriegskasse. Damit wird der Krieg finanziert. Und ich frage mich seit Monaten und sage es laut, warum tut die Bundesregierung nichts dagegen, dass die illegalen Ölexporte direkt durch unser Staatsgebiet fast laufen? Da könnte man mit so vielen kleinen Nadelstichen, man könnte die Küstenwache hinschicken, überprüfen, haben die eine Versicherung? […] Und da könnte man, glaube ich, richtig Druck auf die Kriegskasse des Kremls ausüben. Und es passiert nichts.“ Im ARD-Sommerinterview stellt Van Aken die Behauptung auf, vor der deutschen Insel Fehmarn seien russische Tanker unterwegs, deren Ölverkauf in die Kriegskasse fließe, und die Bundesregierung unternehme nichts dagegen. Das stimmt so nicht. Richtig ist, dass Schiffe der russischen Schattenflotte durch die Ostsee fahren, deutsche Inseln passieren und Sanktionen der EU gegen die Ölindustrie Russlands umgehen. Bekannt wurde vor allem der Tanker „Eventin“, der vor Rügen havarierte. Er wurde Mitte März vom deutschen Zoll beschlagnahmt, der Eigentümer klagte dagegen. Noch ist die Klage nicht entschieden. Am 23. Juni berichtete die ARD detailliert über zwei weitere Tanker der Schattenflotte, die auch deutsche Gewässer passierten: die Utaki und die Prosperity. Die EU sanktioniert 444 Schiffe, die zur Schattenflotte gezählt werden. An diesen Sanktionen beteiligt sich auch Deutschland. Darauf verwies Anna Engelke, stellvertretende Studioleiterin im ARD-Hauptstadtstudio, auch im Gespräch mit van Aken. Das Bundesministerium für Verkehr erklärte darüber hinaus am 1. Juli 2025, dass deutsche Behörden nun den Versicherungsschutz von verdächtigen Schiffen prüften. Das hatte Deutschland bereits im Dezember 2024 gemeinsam mit elf weiteren europäischen Staaten angekündigt. Durch die Sanktionen dürfen in der EU ansässige Firmen nämlich keine Dienstleistungen für Schiffe anbieten, die sanktioniertes Öl befördern. Das schließt auch Versicherungen ein, wie Umweltjuristin Sabine Schlacke im juristischen Onlinemagazin Legal Tribune Online schreibt. Wie wirksam die Maßnahme sein wird, ist unklar, da Russland bereits jetzt Schiffe der Schattenflotte teilweise durch Kriegsschiffe begleiten lässt. Die Schiffe der Schattenflotte vor der deutschen Küste zu stoppen, ist grundsätzlich nicht so einfach möglich, denn im Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (PDF) ist in Teil 3 Artikel 17 festgelegt, dass jedes Schiff ein Recht auf friedliche Durchfahrt durch jedwede Meere hat, auch wenn diese in die territoriale Zuständigkeit eines Staates fallen. Bedingung ist dabei, dass die Durchfahrt kontinuierlich und zügig erfolgt – das war bei der Eventin nicht mehr möglich. „Wenn Russland jetzt mit dem Angriff auf die Ukraine durchkommt, befürchte ich auch andere Angriffe. […] Ja, wir müssen verteidigungsfähig sein. Wir brauchen eine EU- und Landesverteidigung. Deswegen: Nix mit ‚Keine Angst haben‘! Aber ich sage auch: Die europäischen Nato-Staaten, ohne die USA, nur die europäischen Nato-Staaten geben 420 Milliarden im Jahr für Militär aus und Russland nur 300.“ In Bezug auf die Bedrohungslage durch Russland behauptet van Aken zudem, dass die europäischen Nato-Staaten mehr Geld, nämlich 420 Milliarden US-Dollar im Jahr, für das Militär ausgeben würden und Russland nur 300 Milliarden US-Dollar. Interviewerin Anna Engelke vermutet richtig, dass sich van Aken auf eine Greenpeace-Studie aus dem Jahr 2024 bezieht. Das bestätigte uns ein Pressesprecher der Linken auf Anfrage. Van Aken arbeitete bis 2009 als Experte für Gentechnik für Greenpeace. Er zitiert die Zahlen aus dem Papier weitgehend korrekt. Ein Fehler, den Van Aken macht, ist, dass er diese Summe nur den europäischen Nato-Staaten zuordnet: Gemeint sind aber alle Mitglieder außer den USA, also auch Kanada. Doch Kanadas Anteil an den Nato-Ausgaben beläuft sich laut der Greenpeace-Studie ohnehin nur auf rund zwei Prozent. Die Zahlen in der Greenpeace-Studie zu den Nato-Ausgaben stammen von der Nato selbst, die Zahlen zu Russlands Ausgaben stammen vom Stockholm International Peace Research Institute. Sie sind kaufkraftbereinigt. Das bedeutet: Um die Zahlen trotz Unterschieden zwischen Währungen und wirtschaftlicher Lage vergleichbar zu machen, wurden sie auf eine gemeinsame Basis umgerechnet. Die Greenpeace-Studie kommt dementsprechend zu dem deutlichen Schluss: „Ein Defizit der Nato besteht also nicht.“ Ein Bericht des International Institute for Strategic Studies (IISS) nutzt eine andere Berechnungsmethode. Den Bericht erwähnt auch die ARD in ihrem Faktencheck. Dem IISS-Bericht zufolge können die Militärausgaben nicht so einfach in Relation gesetzt werden. Angesichts der niedrigen Kosten für die inländisch dominierte Produktion, berechnet das IISS die russischen Militärausgaben kaufkraftbereinigt. Weil Europa viel Material in den USA einkaufe, berechnet das IISS, anders als Greenpeace, die europäischen Nato-Ausgaben nicht kaufkraftbereinigt, sondern MER-basiert, also angepasst an den Marktwechselkurs (Englisch: market exchange rates). Demnach beliefen sich die russischen Militärausgaben 2024 – nach Kaufkraftbereinigung – auf 462 Milliarden US-Dollar. Sie übertreffen die europäischen Nato-Ausgaben – MER-basiert – damit um etwa 5 Milliarden US-Dollar. Wirtschaftswissenschaftler Janis Kluge, der zur Innenpolitik und der wirtschaftlichen Entwicklung Russlands forscht, weist uns jedoch darauf hin, dass die Nato-Ausgaben auch hier insgesamt deutlich über den Ausgaben Russlands liegen würden, wenn man die USA mit einbeziehen würde. Das zeigt sich auch anhand des IISS-Berichts. Demnach lagen 2024 allein die US-Ausgaben bei etwa 968 Milliarden US-Dollar. Van Aken erwähnt im ARD-Sommerinterview also korrekte Zahlen und unterschiedliche Berechnungsmethoden kommen zumindest zu dem gleichen Schluss, was die höheren Ausgaben der gesamten Nato betrifft. Experten sehen jedoch einen Vergleich, wie van Aken ihn aufstellt, generell kritisch. Wir haben auch Michael Brzoska vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg um eine Einschätzung gebeten. Brzoska war selbst Projektleiter im Stockholm International Peace Research Institute, auf dessen Zahlen sich Greenpeace in ihrer Studie bezieht. Er schreibt uns: „Die Zahlen sind nur begrenzt für den Vergleich militärischer Fähigkeiten geeignet.“ Angaben zum finanziellen Input sagten nichts darüber aus, was mit dem Geld gemacht werde und wie effektiv das sei. „Sowohl in Russland wie der Nato jammert das Militär, dass es zu wenig Geld bekommt. Die Nato hat das Geld, um deutlich mehr Soldaten im Militär zu haben als Russland. Russland produziert mehr Munition, wohl auch gepanzerte Fahrzeuge als die Nato, aber deutlich weniger Kriegsschiffe und Flugzeuge“, so Brzoska. Ähnlich antwortet auch Janis Kluge. Putin habe beispielsweise im Verlauf des Krieges hunderttausende Soldaten zwangsweise eingezogen, was dem Staat bereits Kosten spare. Seine Stärke liege in seiner Skrupellosigkeit, so Kluge. Einen Vergleich zwischen dem „autokratisch geführten“ Russland und der Nato als Bündnis vieler Demokratien findet er deshalb „von Anfang an unsinnig“. „Die Frage der Vermögensteuer ist ja nicht eine theoretische: […] Das bringt übrigens 108 Milliarden im Jahr.“ Als der Linken-Co-Chef die Forderung seiner Partei für eine gestaffelte Vermögenssteuer erwähnt, behauptet er, das bringe 108 Milliarden Euro im Jahr in die Staatskasse. Engelke hält dagegen: Laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) seien es nur 8 bis 20 Milliarden Euro im Jahr. Tatsächlich könnte laut einer Studie des DIW von 2016 eine Wiederaufnahme der Vermögenssteuer in Deutschland dem Staat pro Jahr etwa 10 bis 20 Milliarden Euro Mehreinnahmen einbringen. Die Linke schreibt uns auf Nachfrage, dass auch sie sich auf Berechnungen des DIW bezieht. Sie verweist auf eine Präsentation von Stefan Bach, einem der beiden Autoren der 2016er-Studie. Auf Grundlage der darin vorgestellten Vermögensverteilungsdaten, einem Freibetrag von fünf Millionen Euro für Betriebsvermögen und mithilfe ihres Vorschlags einer gestaffelten Vermögenssteuer, berechnet die Partei Mehreinnahmen für die Staatskasse von mindestens 105 Milliarden Euro – noch bevor eine, wie von den Linken gefordert, Milliardärssteuer greifen würde. Obwohl van Aken im Sommerinterview versicherte, man könne die Zahl „einfach nachrechnen“, ist die Simulation aber nicht öffentlich abrufbar. Außerdem hängt die Berechnung der Linken ohnehin davon ab, wie sich das Vermögen in Deutschland verteilt – und dazu gibt es nur Schätzungen, wie Bach und sein Kollege Andreas Thiemann in ihrer Studie 2016 erklärten. Dementsprechend kommen andere Studien mit verschiedenen Simulationen und Schätzungen zu anderen Ergebnissen: Die Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young schreiben etwa in einem Bericht von 2017, dass eine Vermögensteuer durch Wechselwirkungen mit anderen Steuern gar keinen Mehrertrag für den Staat bringen würde. Die Friedrich-Ebert-Stiftung sieht Mehreinnahmen von bis zu 28 Milliarden Euro. Allerdings legt keine von ihnen den von den Linken geforderten gestaffelten Vermögenssteuersatz zugrunde. Wir konnten van Akens Aussage insofern belegen, dass die Rechnung der Linken ausgehend von ihren Schätzungen zur Vermögensverteilung korrekt ist. Wie nah diese Schätzung allerdings an der Realität ist, lässt sich nicht zweifelsfrei feststellen. „Wir sind die einzige [Partei, Anm. d. Red.], also in der CDU und SPD, die ja auch Blockparteien waren, gab es gar keine Aufarbeitung [ihrer SED-Vergangenheit, Anm. d. Red]. Ich glaube, wir haben das sehr gut gemacht.“ Gegen Ende des Interviews (ab Minute 27:44) bittet Anna Engelke den Co-Parteichef der Linken, einige Sätze zu vervollständigen. Darunter auch den Satz: „Dass meine Partei sich mit der Aufarbeitung ihrer SED-Vergangenheit so schwer tut, ist für mich…“. Van Aken widerspricht und sagt, die Linke habe die Aufarbeitung „sehr gut gemacht“. Bei den „anderen Blockparteien“, van Aken nennt CDU und SPD, habe es eine solche Aufarbeitung nicht gegeben. Bei der Frage nach der Aufarbeitung der SED-Vergangenheit geht es darum, inwieweit sich die Parteien damit auseinandergesetzt haben, welche Rolle sie in der DDR hatten. Die Linke ist die Nachfolgepartei der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), also der Staatspartei der DDR. Die SED regierte autoritär und nutze die Stasi, um die eigene Bevölkerung und politische Gegner zu überwachen. Bei SPD, CDU und FDP geht es darum, ob und inwiefern sie ehemalige Stasi-Agenten und SED-Politikerinnen und -Politiker aufgenommen haben. Nach der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht und dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Mai 1945 wurden Berlin und Gesamtdeutschland in vier Besatzungszonen geteilt, darunter die Sowjetische Besatzungszone (SBZ). In der Sowjetischen Besatzungszone traf zwar die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) alle grundsätzlichen Entscheidungen, doch sie erlaubte am 10. Juni 1945 die Gründung von „antifaschistisch-demokratischen Parteien“, wie der Historiker Hermann Weber in einem Artikel der Bundeszentrale für Politische Bildung schreibt. Daraufhin gründeten sich unter anderem die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD), die SPD, die CDU und die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD bzw. LDP). Diese Parteien bildeten am 14. Juli 1945 einen sogenannten Block, der sich „Einheitsfront der antifaschistisch-demokratischen Parteien“ nannte. In einer wissenschaftlichen Arbeit der „Enquete-Kommissionen zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ schreibt der Historiker Michael Richter: „Vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Weimarer Republik waren die Gründer von CDU und LDP bereit, sich dem von den Sowjets angeordneten Block anzuschließen. Sie hofften auf diese Weise, der Bevorzugung der KPD durch die Sowjets zu begegnen und Einfluß auf die Politik zu gewinnen.“ Zu diesem Zeitpunkt wurde der Block nicht, wie in den Folgejahren, von der SMAD und der SED kontrolliert. So schreibt der wissenschaftliche Dienst des Bundestages, der Block sei „zunächst noch auf der Grundlage einer freiwilligen Zusammenarbeit“ zusammengekommen. Auch, wenn er zu diesem Zeitpunkt bereits unter dem Einfluss der SMAD stand. Letztendlich wurde der Block jedoch von der KPD dominiert und so zu „einem brauchbaren Instrument [für die Sowjetische Militäradministration, Anm. d. Red.] bei der Formung des Parteiensystems“, so Hermann Weber in seinem Artikel. Im April 1946 folgte dann, unter dem Druck der SMAD, die Zwangsvereinigung der SPD mit der KPD zur SED. Dadurch war die SPD nicht mehr Teil der Blockparteien. Die Aussage von van Aken, die SPD sei eine Blockpartei gewesen, ist also falsch. Und auch der Vorwurf, den van Aken im Sommerinterview macht, dass die SPD keine Aufarbeitung zur SED-Vergangenheit geleistet habe, ist laut Fachleuten falsch. Der Politikwissenschaftler Gero Neugebauer, der zur Geschichte der SPD und der Linken forschte, sagte im Gespräch mit CORRECTIV.Faktencheck: „Die SPD war innerhalb der SED eliminiert“, es habe daher in der SED auch keine sozialdemokratische Tradition gegeben. So äußerte sich auch der Historiker Martin Sabrow. Die SPD habe nichts aufzuarbeiten, da sie mit der KPD zwangsvereinigt worden sei und so nicht Teil der Blockparteien war, die später von der SED und der SMAD gelenkt wurden. Erst im Oktober 1989 gab es mit der „Sozialdemokratischen Partei in der DDR“ (SDP), die sich im Januar 1990 in SPD umbenannte, wieder eine sozialdemokratische Partei in Ostdeutschland. Gero Neugebauer sagte im Gespräch mit CORRECTIV.Faktencheck über die Ost-SPD: „Diese SPD, wie sie 1989 gegründet wurde und die sich im September 1990 mit der West-SPD vereinigte, hatte mit der alten SPD nichts mehr zu tun.“ Auch ein Sprecher der SPD schreibt uns: „Die SPD hat keine SED-Vergangenheit, die es aufzuarbeiten gilt.“ Die Zwangsvereinigung der SPD mit der KPD habe „gegen die überwältigende Mehrheit der SPD-Mitglieder mit diktatorischen Mitteln der sowjetischen Besatzungsmacht und deutscher Kommunisten“ durchgesetzt werden müssen. Mit seiner Aussage konfrontiert, schreibt uns van Aken: „Da ist mir ein Fehler durchgerutscht, ich bitte alle Genossen der SPD da um Verzeihung. Die FDP hatte mit der LPDP eine Schwesterpartei, die Blockpartei war, nicht die SPD.“ Die FDP übernahm die LDPD und Mitglieder der National-Demokratische Partei Deutschlands (NDPD), wie Hermann Weber in seinem Artikel für die Bundeszentrale für Politische Bildung schreibt. Die NDPD wurde mit dem Ziel gegründet, „ehemalige Soldaten und Mitglieder der NSDAP sowie Angehörige des Bürgertums“ in die DDR zu integrieren, schreibt die Bundeszentrale für politische Aufklärung. Dazu schreibt uns ein Sprecher der FDP auf Anfrage: „Die Geschichte der DDR und der darin tätigen Blockpartei LDPD (Liberal-demokratische Partei Deutschlands) ist durch die parteinahe Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in mehrfacher Hinsicht und umfangreich aufgearbeitet worden.“ Man habe den Archivbestand der LDPD „im Umfang von ca. 700 laufenden Metern“ in das „Archiv des Liberalismus“ der Friedrich-Naumann-Stiftung überführt. „Dieser Bestand wurde und wird weiter bearbeitet und laufend für die Nutzung zur Verfügung gestellt.“ Zum anderen habe die „Stiftung zahlreiche Forschungen zur DDR und zur LDPD angeregt und selbst durchgeführt“. Auch mit dem Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung in Dresden habe man Forschungsprojekte zur Geschichte der LDPD durchgeführt. Doch diese Aufarbeitung bezeichnet Historiker Christoph Wunnicke als „vertuschend“ und „verharmlosend“. In einem Gutachten erklären er und die Historiker Ehrhart Neubert und Mario Niemann: „Historische Aufarbeitung [durch CDU und FDP, Anm. d. Red.] wird überwiegend in den parteinahen Stiftungen betrieben. Bezüglich der DDR geschieht dies nahezu ausschließlich zur Geschichte ihrer Vorgängerparteien in den Jahren unmittelbar nach dem Krieg bis zur endgültigen Gleichschaltung Anfang der fünfziger Jahre. Über die folgenden Jahrzehnte bis zur Friedlichen Revolution wird so gut wie gar nicht geforscht und publiziert. Den wenigen Ausnahmefällen liegt oft eine Verklärungsabsicht zu Grunde.“ Und wie steht es um die Behauptung von van Aken, dass die CDU ihre SED-Vergangenheit nicht aufgearbeitet hätte? Das hat der Historiker Christoph Wunnicke, der auch für die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen tätig ist, für uns eingeordnet. Er schrieb uns: „Die CDU (West) hat sich bis zum Frühjahr 1990 sehr kritisch mit der CDU in der DDR auseinandergesetzt. Spätestens mit der damals absehbaren Fusion brach das ab. In der CDU (Ost), später in der gesamtdeutschen CDU, gab es dieses Interesse nie – und damit auch keine Kommissionen.“ Es gebe zwar einige Studien und Bücher zur „eher unbelasteten Frühgeschichte ostdeutscher CDU-Landesverbände bis zur Gleichschaltung Anfang der 1950er Jahre“, so schreibt uns Wunnicke weiter. Die „danach einsetzende belastende Zeit“ werde aber ausgeblendet. Eine Aufarbeitung der Geschichte des Landesverbandes Thüringen hält Wunnicke für nicht ausreichend. Zum Beispiel sei die Aufnahme von Mitgliedern der Demokratischen Bauernpartei Deutschlands (DBD) und deren Karrieren nicht untersucht worden. Auch Gero Neugebauer kommt zu einem ähnlichen Fazit: Die CDU habe sich nicht systematisch mit ihrer Vergangenheit befasst, von einer „Aufarbeitung“ könne man daher nicht sprechen. Wir baten die CDU um eine Stellungnahme, doch erhielten bis zur Veröffentlichung keine Antwort. Die Linke entstand in ihrer heutigen Form durch die Umbenennung der SED in PDS (Partei des demokratischen Sozialismus) und den Zusammenschluss mit der WASG (Arbeit & soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative) im Jahr 2007, wie die Bundeszentrale für Politische Bildung schreibt. Über die Aufarbeitung der Geschichte der eigenen Partei sagt van Aken, die Partei habe das „sehr gut gemacht“. Martin Sabrow, ehemaliger Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam, sagte im Gespräch mit CORRECTIV.Faktencheck, die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit der Partei sei eine „Existenznotwendigkeit“ gewesen. Diese sei in der Folge allerdings auch ernst genommen worden. So habe die Partei eine historische Kommission mit etwa zwei Dutzend Fachleuten eingerichtet und, neben der vom Bundestag beschlossenen Enquete-Kommission, eine alternative Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der SED-Verbrechen initiiert. Gero Neugebauer sagte uns, in Bezug auf die Befassung mit der SED-Vergangenheit: Diese habe es, auch organisiert durch die Partei, innerhalb der PDS als auch in bzw. im Umfeld der parteinahen Rosa-Luxemburg-Stiftung durch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gegeben. Dennoch, so Neugebauer, „kann man nicht sagen, dass die Partei ihre SED-Vergangenheit“ komplett „auf den Tisch gelegt“ habe. Ungeklärt sei beispielsweise der Verbleib des SED-Vermögens. Ähnlich sieht das auch Christoph Wunnicke. „Soweit ich weiß, gilt ein Großteil des Auslandsvermögens der SED zwar als aufgeklärt und eingezogen, dennoch bleiben viele Millionen D-Mark verschwunden.“ Redigatur: Kimberly Nicolaus, Steffen Kutzner
Matthias Bau
Am 17. August war Jan van Aken von der Linken im Sommerinterview der ARD. Einige seiner Aussagen im Faktencheck.
[ "Hintergrund", "Politik" ]
2025-08-28T08:47:51+02:00
2025-08-28T08:47:51+02:00
2025-08-28T11:38:20+02:00
https://correctiv.org/faktencheck/hintergrund/2025/08/28/sommerinterview-mit-jan-van-aken-aussagen-zur-ddr-vergangenheit-und-vermoegenssteuer-im-faktencheck/
CDU suggeriert fälschlich Zusammenhang zwischen Familiennachzug und Kriminalität
Ende Juni beschloss der Bundestag, den Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte vorübergehend auszusetzen. Laut einem Beitrag der CDU mache das „Deutschland wieder sicherer“. Das stimmt so nicht. von Matthias Bau Am 27. Juni 2025 setzte der Bundestag den Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte für zwei Jahre aus. Das betrifft Personen, die im Asylverfahren keinen Flüchtlingsstatus oder keine Asylberechtigung erhalten haben, denen aber im Falle einer Rückkehr in ihr Heimatland Folter, die Todesstrafe oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohen. Sie dürfen ihre Familie (Ehepartner, Kinder, Eltern von minderjährigen Kindern) nur noch in Härtefällen nach Deutschland holen. Dafür stimmten mehrheitlich CDU/CSU, SPD und AfD. Hintergrund der aktuellen Entscheidung zum Familiennachzug ist laut dem Gesetzentwurf der Regierungskoalition, dass die Behörden entlastet werden sollen. Ein Narrativ, mit dem Innenminister Alexander Dobrindt bereits Zurückweisungen an der Grenze rechtfertigte, die Fachleute als juristisch nicht haltbar bezeichneten. In einem Beitrag auf X erweckt die CDU den Eindruck, Deutschland solle durch das neue Gesetz sicherer werden. Wörtlich schreibt die Partei: „Bundestag beschließt Aussetzung des Familiennachzugs. Wir machen Deutschland wieder sicherer.“ Was die Aussetzung des Familiennachzugs mit mehr Sicherheit zu tun hat, lässt das Bild im X-Beitrag offen. Die Pressestelle der Partei antwortete auf unsere Fragen dazu nicht. Wir schauen uns an: Wen betrifft die beschlossene Änderung beim Familiennachzug? Und hat das Auswirkungen auf die Kriminalität? Seit 2015 ist der Familiennachzug ein Streitpunkt politischer Debatten in Deutschland. Ein Jahr nach seinem ersten Inkrafttreten wurde er schon wieder ausgesetzt. Später wurde er auf 1.000 Visa pro Monat begrenzt, betroffen davon waren immer Familien von subsidiär Schutzberechtigten. Asylberechtigte und anerkannte Geflüchtete dürfen weiterhin ihre engsten Angehörigen nach Deutschland holen, darauf haben sie gesetzlich Anspruch. Wer nur den X-Beitrag der CDU sieht, könnte denken, der gesamte Familiennachzug nach Deutschland sei ausgesetzt worden. Laut Mediendienst Integration machen die Anträge der subsidiär Schutzberechtigten lediglich rund acht Prozent beim Familiennachzug aus. Die Grafik des Mediendienstes zeigt: Zwischen 2018 und 2024 wurden demnach rund 58.400 Visa zum Zweck des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten vergeben. Im ersten Halbjahr 2025 rund 5.800 Visa (Stand: 23.6.2025). In Deutschland gibt es verschiedene Schutzformen, die mit unterschiedlichen Rechten beim Familiennachzug einhergehen. Die Schutzformen sind Asyl, die Anerkennung als Flüchtling nach der Genfer Konvention, der Subsidiäre Schutz und das Nationale Abschiebeverbot. Asyl: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, heißt es in Artikel 16a des Grundgesetzes. Das Bamf erklärt dazu auf seiner Homepage, dass Menschen dann asylberechtigt sind, wenn sie bei der Rückkehr in ihr Herkunftsland mit einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung rechnen müssen, die ihnen auf Grund ihrer Rasse, Nationalität, politischen Überzeugung, religiösen Grundentscheidung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe droht. Die Verfolgung muss vom Staat oder einer Organisation ausgehen, die den Staat ersetzt hat. Zudem darf es keine Fluchtalternative innerhalb des Herkunftslandes geben, wenn Menschen Asyl erhalten wollen. Flüchtlinge nach der Genfer Konvention: Die Vereinten Nationen (UN) definieren einen Flüchtling im „Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“ aus dem Jahr 1967 als Person, die: „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will.“ Wie das Bamf schreibt, kann hier die Verfolgung auch von einem nicht-staatlichen Akteur ausgehen. Subsidiärer Schutz: Wer kein Asyl oder Schutz nach der Genfer Konvention bekommt, kann subsidiären Schutz erhalten, wenn ihm im eigenen Herkunftsland „ernsthafter Schaden“ droht. Wie das Bamf schreibt, kann ein ernsthafter Schaden sowohl von staatlichen als auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen. In Paragraf 4 Absatz 1 des Asylgesetzes sind dafür folgende Gründe aufgelistet: die Verhängung der Todesstrafe, Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und eine ernsthafte Bedrohung für das Leben. Nationales Abschiebeverbot: Greift keine der anderen Schutzformen, dann kann es immer noch sein, dass Schutzsuchende aufgrund eines Abschiebeverbots in Deutschland bleiben dürfen. Ein solches Verbot wird dann erlassen, so das Bamf, wenn „die Rückführung in den Zielstaat eine Verletzung der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) darstellt, oder dort eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.“ Ein Beispiel für eine solche Gefahr sind auch lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankungen, die sich durch eine Abschiebung wesentlich verschlimmern würden. Geregelt ist das in Paragraf 60 Absatz 7 des Aufenthaltsgesetzes. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gibt in seinem Papier „Das Bundesamt in Zahlen“ (PDF, Download) an, im Jahr 2024 in 75.092 Fällen subsidiären Schutz gewährt zu haben. Insgesamt lebten laut Statistischem Bundesamt etwas mehr als 381.000 Menschen mit diesem Aufenthaltsstatus in Deutschland (Stichtag: 31. Dezember 2024): knapp zwei Drittel von ihnen männlich; der größte Teil aus Syrien (295.614), dem Irak (20.858) und Afghanistan (18.543). Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Partei Die Linke vom 14. Mai 2025 hervor. Grundsätzlich ist der Familiennachzug für alle Schutzberechtigten möglich. Denn, so heißt es im Aufenthaltsgesetz: „Die Aufenthaltserlaubnis zur Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet für ausländische Familienangehörige (Familiennachzug) wird zum Schutz von Ehe und Familie gemäß Artikel 6 des Grundgesetzes erteilt und verlängert.“ Im Grundgesetz steht: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.“ Dass die Aussetzung des Familiennachzugs überhaupt möglich ist, liegt laut Rhea Kummer, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung daran, dass es keine europäischen Vorgaben zum subsidiären Schutz gibt. „Das bedeutet, dass Deutschland die Vorschrift des § 36a AufenthG grundsätzlich ändern kann“, so Kummer. Deutschland sei aber gleichzeitig auch an Artikel 6 des Grundgesetzes gebunden. Sie sehe dies bei einer Aussetzung des Familiennachzugs als verletzt an. In einem Artikel auf dem Verfassungsblog argumentierte sie im März 2025 gemeinsam mit Greta Wessing, dass die Aussetzung des Familiennachzugs „verfassungsrechtlich nur Bestand haben“ könne, „wenn das öffentliche Interesse gegen die Interessen aller betroffenen Familienmitglieder abgewogen wird“. Das Argument von Innenminister Dobrindt, dass mit der Aussetzung die Aufnahme- und Integrationssysteme entlastet würden, weisen die Autorinnen zurück. Sie schreiben darüber hinaus, dass „die weitere Beschränkung des Familiennachzugs angesichts des deutlichen Rückgangs der Asylantragszahlen überhaupt nicht erforderlich scheint“. Weiter argumentieren Kummer und Wessing, dass eine langfristige Trennung eine „massive psychische Belastung“ für Geflüchtete darstelle. Der Familiennachzug hingegen „erleichtert Integration, wirkt gewaltpräventiv und dem demographischen Wandel entgegen“, so die Autorinnen. Daher sei das „öffentliche Interesse an einer erneuten Aussetzung […] als marginal zu bewerten“, demgegenüber überwiege das „öffentliche Interesse und das Interesse der betroffenen Familien an einer Aufrechterhaltung und Ausweitung des Familiennachzugs […] deutlich“. Ähnlich argumentierte auch Valentin Feneberg, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Leuphana Universität Lüneburg, im Juni 2025 auf dem Verfassungsblog. Der europäische Gerichtshof urteile dazu im Jahr 2021, dass im konkreten Fall einer subsidiär schutzberechtigten Person eine Wartezeit von zwei Jahren im Einklang mit der Rechtslage sei, eine längere Frist aber nicht zumutbar sei beziehungsweise das Interesse der schutzbedürftigen Person in der Interessenabwägung stärker berücksichtigt werden müsse. Für subsidiär Schutzberechtigte gibt es einen gesonderten Paragraphen im Aufenthaltsgesetz, den der Bundestag nun für zwei Jahre ausgesetzt hat. Demnach gilt, dass sie nur noch in Härtefällen Familienangehörige nach Deutschland holen dürfen. Was das genau heißt, wird in der Gesetzesänderung nicht weiter erläutert. Auf der Webseite des Auswärtigen Amtes heißt es, dass dabei „vor allem völkerrechtliche und dringende humanitäre Gründe“ bedeutsam sind. Laut Medienberichten sagte Innenminister Alexander Dobrindt, dass das zum Beispiel Situationen seien könnten, in denen Familienangehörige „dringende medizinische Versorgung brauchen, die ihnen in ihrem Heimatland nicht gewährt werden kann“. Da es bereits zuvor im Gesetz eine Deckelung auf 1.000 Anträge pro Monat gab, werden durch den Beschluss von CDU, SPD und AfD nun maximal 12.000 Visa weniger pro Jahr vergeben. Wer sind die Menschen, die zuvor über solche Visa nach Deutschland kamen? Das ist nicht eindeutig zu sagen, denn die Statistik des Auswärtigen Amtes unterscheidet nicht nach der Schutzform. Aus dem Auswärtigen Amt hieß es dazu auf Anfrage: „Ein Visum zum Familiennachzug – unabhängig vom Aufenthaltsstatus der Person in Deutschland – wird statistisch als Familiennachzug erfasst. Die statistische Erfassung erfolgt entlang der Rechtsgrundlage des Visums, nicht entlang des Status der Person in Deutschland.“ Wie der Mediendienst Integration auf Grundlage einer Anfrage berichtet, wurden im ersten Halbjahr 2025 rund 54.600 Visa zum Familiennachzug insgesamt erteilt. Im Vorjahr waren es laut Daten des Auswärtigen Amtes etwas mehr 120.000. Das Auswärtige Amt schlüsselt die Daten einmal im Jahr nach „Ehegattennachzug“, „Elternnachzug“, „Kindernachzug“ und „Sonstiger Familiennachzug“ auf. So lässt sich nachvollziehen, dass 2024 mehr als ein Drittel der Visa an Kinder unter 18 Jahre erteilt wurden (45.452). Etwas mehr als 70.000 Visa wurden im Rahmen des Ehegattennachzugs für alle Schutzsuchenden erteilt. Wie viele davon Frauen erhielten, ist unklar, da diese Information statistisch nicht erfasst wird, wie uns auch das Auswärtige Amt auf Nachfrage bestätigte. Zahlen zeigen aber: Grundsätzlich stellen mehr Männer in Deutschland einen Asylantrag – damit haben grundsätzlich auch mehr Männer die Möglichkeit, ihre Familien nachzuholen. Auch die subsidiär Schutzberechtigten sind – wie bereits oben erwähnt – überwiegend männlich. Gina Wollinger ist Professorin für Kriminologie und Soziologie an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung in Nordrhein-Westfalen. Wir wollten von ihr wissen, ob die 12.000 Visa, die 2024 für den Familiennachzug genehmigt wurden, ein höheres Kriminalitätsrisiko nach sich zogen. Wolling schrieb uns: „Nein. Die Anzahl der Menschen ist sehr klein und es ist nicht davon auszugehen, dass sie besonders kriminogen sind.“ Sie schätze, dass es eher Frauen und Kinder seien, da unter den Geflüchteten eher junge Männer sind. Frauen und Kinder hätten ein „sehr niedriges“ Kriminalitätsrisiko. Laut der Kriminologin könnte die Aussetzung des Familiennachzugs sogar einen negativen Effekt haben. Denn: „Es ist ein Kernbefund der Kriminologie, dass soziale Bindungen enorm wichtig für Menschen sind und das Risiko, sich antisozial zu verhalten, Straftaten zu begehen, senken. Das gilt gerade für enge familiäre Bindungen […] Familiennachzug ist somit ein schützender Faktor vor Kriminalität. Unterbindet man dies, kann das Menschen, die eh schon lang von ihrer Kernfamilie getrennt sind, in tiefe Verzweiflung und Perspektivlosigkeit bringen. Das ist eher ein Risiko.“ Dörte Negnal, Juniorprofessorin im Fachbereich Sozialwissenschaftliche Kriminologie und Legal Gender Studies an der Universität Siegen, schreibt uns dazu: „Aus der Strafvollzugsforschung wissen wir, dass die Trennung von der Familie für Menschen immer einen Bruch darstellt, der enormer Aufwendungen bedarf, um aufgefangen zu werden. Dies verschärft sich noch, wenn die Trennung durch das Eingreifen staatlicher Behörden erfolgt.“ Aus ihrer Sicht sind ein sicherer Aufenthaltsstatus sowie eine Arbeitserlaubnis wichtige Maßnahmen, um das Kriminalitätsrisiko von Geflüchteten zu senken. „Berufsbildende und berufliche Integration ermöglicht gesellschaftliche Teilhabe“, so die Expertin. Die gesellschaftliche Integration unterstützte auch der Familiennachzug. Denn, so Negnal: „Wessen Familie im Ausland ist, insbesondere wenn es Ehepartner*innen und Kinder sind, wird sich nicht im gleichen Maße um Teilhabe hierzulande bemühen können.“ Straftaten sind zudem ein Grund dafür, warum Personen – trotz der ansonsten erfüllten Kriterien – Schutz verweigert oder aberkannt werden kann. So steht es im Asylgesetz (siehe § 3 und § 4 Abs. 2). Darüber berichteten wir im November 2024. Damals schrieb uns Bamf-Sprecher von Borstel: Sollten Ausländerinnen oder Ausländer straffällig geworden sein, könne das Bamf eine Rücknahme oder den Widerruf des Schutzstatus prüfen. „Insbesondere vorsätzliche Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung stehen hier im Fokus.“ Für die Aussage der CDU auf X hat Negnal kein Verständnis: „Diese Aussage ist hoch problematisch, weil sie im Grunde eine Täter-Opfer-Umkehr vollzieht. Es wird davon ausgegangen, dass Menschen, deren Angehörige massiv von Gewalt bedroht sind, selbst Gewalttäter*innen sind.“ Gina Wolling schreibt uns über die Aussage der CDU: „Schon allein aufgrund der geringen Anzahl an Menschen, um die es hier geht, ist das Unfug.“ Ausländerinnen und Ausländer gerieten in der Vergangenheit immer wieder in den Fokus der CDU. Mal kritisierten Parteivertreter Asylbewerber, mal Schutzsuchende aus der Ukraine. So behauptete CDU-Chef Friedrich Merz im September 2022 ohne Belege, es gebe „Sozialtourismus“ durch Ukrainerinnen und Ukrainer, die angeblich unrechtmäßig in Deutschland Bürgergeld bezögen. Im Januar 2025 sagte er ohne Belege, es gebe „täglich stattfindende Gruppenvergewaltigungen aus dem Milieu der Asylbewerber“. Auf unsere Anfrage, wie die CDU zu ihrer Aussage auf X kam und was genau sie mit „Deutschland wird sicherer“ meint, erhielten wir bis zur Veröffentlichung keine Antwort. Redigatur: Sarah Thust, Paulina Thom
Matthias Bau
Der Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte ist erstmal ausgesetzt. Laut CDU mache das „Deutschland wieder sicherer“. Ein Faktencheck.
[ "Hintergrund", "Politik" ]
2025-08-21T12:54:58+02:00
2025-08-21T12:54:58+02:00
2025-08-26T16:02:58+02:00
https://correctiv.org/faktencheck/hintergrund/2025/08/21/cdu-suggeriert-faelschlich-zusammenhang-zwischen-familiennachzug-und-kriminalitaet/
ZDF-Sommerinterview: Aussagen von Tino Chrupalla im Faktencheck
Im ZDF-Sommerinterview 2025 mit dem AfD-Vorsitzenden Tino Chrupalla fielen nur wenige prüfbare Behauptungen. An einigen Stellen äußerte er sich aber irreführend über die eigene Partei. von Steffen Kutzner , Gabriele Scherndl Am 10. August 2025 war AfD-Co-Vorsitzender Tino Chrupalla zu Gast im ZDF-Sommerinterview – es ging unter anderem über Waffenlieferungen, Bürgergeld und Rechtsextremismus. Moderator Wulf Schmiese versuchte, den Politiker über weite Strecken zu einer außenpolitischen Positionierung zu bewegen. Entsprechend rar blieben klare Tatsachenbehauptungen, die sich für einen Faktencheck eignen. Doch einige Aussagen von Chrupalla lassen sich prüfen. CORRECTIV.Faktencheck ordnet – wie auch schon bei vergangenen Sommerinterviews – ein, wo Kontext fehlte oder welche Angaben irreführend waren. „Ich kann nicht davon ausgehen […], dass jemand rechtsextrem ist. Wenn es diese Personen gibt, und da hat unsere Partei sich immer dagegen gewehrt, wird es auch […] Maßnahmen […] geben, die Landes- und Bundesschiedsgerichte [werden dem] nachgehen und diese Personen werden wir auch ausschließen. Wenn es Grenzüberschreitungen gibt […] gegen die freiheitlich demokratischen Grundregelungen und das Grundgesetz […], ist [das] die rote Linie.“ Etwa ab Minute 16:30 sagt Chrupalla einerseits, er gehe nicht davon aus, dass es Rechtsextreme in der AfD gebe. Andererseits sagt er: Sollte es diese geben, würden diese von den Landes- und Bundesschiedsgerichten ausgeschlossen. Im Verfassungsschutzbericht wird das rechtsextreme Personenpotenzial in der AfD seit 2022 explizit erfasst. Der aktuelle Verfassungsschutzbericht sah Ende 2024 ein „Rechtsextremismuspotential“ von geschätzt 20.000 Personen in der AfD. Dabei sind auch Personen in der Jungen Alternative (JA) eingerechnet. Laut Medienberichten von Juni 2024 hatte die AfD rund 48.000 Mitglieder, die JA hat nach aktuellen Eigenangaben mehr als 3.000. Die AfD trennte sich Anfang 2025 von der JA, sie soll durch eine neue Jugendorganisation ersetzt werden. Auf Seite 102 schreibt der Verfassungsschutz über die Partei: „In den Verlautbarungen der AfD und ihrer Repräsentanten kommt vielfach ein ethnisch-abstammungsmäßig geprägtes Volksverständnis zum Ausdruck, das im Widerspruch zum Volksverständnis des Grundgesetzes steht.“ Das ist keine jüngere Entwicklung: Hier hat CORRECTIV 14 Zitate aus den vergangenen Jahren zusammengetragen, die das völkische und damit rechtsextreme Denken von AfD-Vertretenden verdeutlichen. Im Mai 2025 stufte der Verfassungsschutz die AfD als „rechtsextremistisch“ ein, wegen eines laufenden Rechtsstreits kommuniziert er jedoch nur, dass die AfD ein derartiger Verdachtsfall sei. Über den innerparteilichen Streit um den „ethnisch-kulturellen Volksbegriff“, der von Gerichten als maßgeblich für die Verfassungsfeindlichkeit der Partei bewertet wurde, berichtete CORRECTIV im Juli 2025. Unter Fachleuten gehen die Bezeichnungen für die AfD auseinander. Rechtsextremismus-Forscher Matthias Quent nannte im Mai 2025 die Partei im Gespräch mit der ARD ein „Gravitationszentrum des Rechtsextremismus“. Hendrik Cremer, Jurist beim Deutschen Institut für Menschenrechte, schreibt: „Die Partei ist nicht nur rechtspopulistisch oder in Teilen rechtsextrem, die AfD ist in ihrer Programmatik insgesamt rechtsextrem und verfassungsfeindlich.“ Auch Einzelpersonen stehen immer wieder im Fokus. Etwa Björn Höcke, Vorsitzender des AfD-Landesverbandes in Thüringen. 2019 entschied ein Gericht, dass die Äußerung, er sei ein „Faschist“ in dem Kontext, in dem sie gefallen ist, zulässig war. Die Begriffe „Faschismus“ und „Rechtsextremismus“ sind nicht deckungsgleich, weisen aber inhaltliche Überschneidungen auf. Kürzlich stufte der Verfassungsschutz Brandenburg fünf der dortigen Abgeordneten als „rechtsextremistisch“ ein, wie eine Pressesprecherin auf Anfrage bestätigt. CORRECTIV.Faktencheck wollte von den einzelnen AfD-Landesschiedsgerichten und dem AfD-Bundesschiedsgericht wissen, wie viele Personen aus der AfD aus der Partei ausgeschlossen wurde, weil sie rechtsextrem sind oder gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung verstoßen. Und auch, wie die Schiedsgerichte Einordnungen definieren. Einzig das Landesschiedsgericht Mecklenburg-Vorpommern antwortete inhaltlich: In Bezug auf Extremismus würden Aspekte wie eine Delegitimierung des Staates und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit betrachtet. Der Präsident des Landesschiedsgerichts, Horst Förster, schrieb: In diesem Jahr habe er drei Parteiausschlussverfahren wegen verfassungsfeindlichen Verhaltens behandelt, zwei davon hätten zum Parteiausschluss geführt. Aus Brandenburg kam keine Antwort auf die Frage, ob das dortige Landesschiedsgericht sich derzeit mit den fünf als „rechtsextremistisch“ eingestuften Abgeordneten beschäftigt. Mit Höcke befasste sich das Schiedsgericht zwar, er blieb jedoch in der Partei. In Nordrhein-Westfalen entschied das Landesschiedsgericht laut Medienberichten im Juli 2025 den Ausschluss des Bundestagsabgeordneten Matthias Helferich, der Verfahrensstand ist jedoch unklar. „Wir haben uns erstens in der Vergangenheit dazu reichlich geäußert, auch im deutschen Bundestag [zu Gaza, Anm. d. Red.]. Auch unsere Position, was zum Beispiel Waffenlieferungen in Krisen- und Kriegsgebiete angeht, ist klar, die haben wir von Anfang an auch im Wahlprogramm immer abgelehnt und dazu stehen wir auch.“ Moderator Schmiese sagt ab Minute 2:52, dass es von der AfD in den vergangenen Wochen keine Pressemitteilungen zu Israel und Gaza gegeben habe, obwohl dieses Thema „Deutschland und die Welt“ umtreibe. Chrupalla entgegnet, die Position der AfD sei klar: Man habe Waffenlieferungen in Kriegs- und Krisengebiete „von Anfang auch im Wahlprogramm immer abgelehnt“. Redebeiträge im Bundestag zum Thema Gaza und Israel gab es tatsächlich, doch so eindeutig, wie von Chrupalla dargestellt, ist die Position der AfD zu Waffenlieferungen nicht. Zwar kritisierte die AfD in den Wahlprogrammen zur Europawahl 2019 und zur Europawahl 2024 Waffenlieferungen in Kriegsgebiete allgemein. In den Wahlprogrammen zu den Bundestagswahlen 2017 und 2021 kam das nicht vor. Im Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2025 kritisiert die AfD lediglich Waffenlieferungen an die Ukraine. Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und den darauf folgenden Angriffen Israels auf den Gazastreifen gibt es in der AfD unterschiedliche Positionen. Im Dezember 2024 schrieb die Abgeordnete Beatrix von Storch, die AfD habe „allgemeine Bedenken und eine Diskussion bezüglich der Lieferung von Waffen in Krisenregionen. Zwischen Deutschland und Israel gibt es aber seit Jahrzehnten eine intensive Rüstungskooperation, die weiter fortgesetzt werden soll und die durch die aktuelle Situation in Gaza nicht berührt wird.“ Das zeigt sich auch im Bundestag: Während der Abgeordnete Alexander Gauland in einem Redebeitrag im Juni 2025 Israels Vorgehen im Nahost-Krieg unterstützte, lobte Markus Frohnmaier im selben Monat Trump dafür, dass er Druck auf Israel ausübte. Das Center für Monitoring, Analyse und Strategie (Cemas) hat recherchiert, dass Vertreterinnen und Vertreter der Partei im Nahost-Krieg teils eine vermeintlich Israel-solidarische Haltung einnehmen, andere hingegen antisemitische Stereotype bedienen. Das Internetportal der Amadeu Antonio Stiftung, Belltower News, schrieb im Juni 2025: Die AfD verabschiede sich zunehmend von einer „strategisch-solidarischen Position gegenüber Israel“ – doch dieser Kurs sei bislang kein Konsens. „Im Übrigen auch ein Punkt, wo ich wirklich ein Stück weit schmunzeln musste, als er [CSU-Chef Markus Söder im Sommerinterview, Anm. d. Red.] kritisiert hat, dass Ukrainer Bürgergeld beziehen. Eine Position, die wir von Anfang an vertreten haben.“ Beim Thema Bürgergeld für Ukrainer (ab Minute 15:25) gibt Chrupalla die damalige Parteiposition richtig wieder. Es geht um einen Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz vom 7. April 2022. Er sah vor, dass ukrainische Kriegsflüchtlinge ab dem 1. Juni 2022 Sozialleistungen nicht mehr nach dem Asylbewerbergesetz erhalten sollen, sondern nach dem Sozialgesetzbuch. Damit können sie Bürgergeld erhalten. Die AfD stimmte damals zwar nicht gegen diesen sogenannten Rechtskreiswechsel, sondern enthielt sich, wie aus dem Plenarprotokoll hervorgeht. Das heißt aber nicht, dass sie für die Umstellung war. Auf Nachfrage erklärt die AfD-Bundestagsfraktion, man habe sich bei der Abstimmung enthalten, um einen anderen Teil des Gesetzänderungsantrags nicht zu blockieren: einen Sofortzuschlag für Kinder in Mindestsicherungssystemen aus Anlass der Covid-19-Pandemie. Im Plenarprotokoll auf Seite 103 ist auch nachzulesen, dass sich die AfD-Abgeordnete Gerrit Huy für den Zuschlag aussprach. Am 18. Oktober 2022 stellt die AfD-Fraktion einen Antrag, den Rechtskreiswechsel rückgängig zu machen, also ukrainische Flüchtlinge wie andere Flüchtlinge auch nach dem Asylbewerbergesetz zu behandeln. Der zuständige Ausschuss empfahl die Ablehnung des Antrags. Das fordern auch Parteivertreter der CDU und CSU, wie zum Beispiel unser Faktencheck zum ZDF-Sommerinterview mit Markus Söder zeigt. Bei einigen anderen Aussagen im Sommerinterview blieb Chrupalla vage. So sagte er etwa recht unkonkret, die „freie Meinungsäußerung“ in Deutschland sei in Gefahr. Die Meinungsfreiheit umzudeuten ist eine bekannte Strategie, die Vertretende der AfD und ihre Unterstützer anwenden, wie wir hier in einer Hintergrundrecherche berichten. Diese Strategie lässt außer Acht, dass das grundrechtlich verankerte Recht auf Meinungsfreiheit vom Strafrecht beschränkt wird. Das Grundrecht sieht also vor, dass die Meinungsfreiheit nicht allumfassend ist. Es endet dort, wo Delikte wie Volksverhetzung oder das Verwenden verfassungswidriger Kennzeichen beginnen. Auf eine Anfrage von CORRECTIV.Faktencheck antwortete Chrupalla nicht. Weitere Faktenchecks zu den Sommerinterviews 2025 finden sich hier. Redigatur: Matthias Bau, Sarah Thust
Gabriele Scherndl
Im ZDF-Sommerinterview 2025 mit Tino Chrupalla fielen nur wenige prüfbare Behauptungen. Er äußerte sich jedoch irreführend über die eigene Partei.
[ "Hintergrund", "Politik" ]
2025-08-14T14:07:20+02:00
2025-08-14T14:07:20+02:00
2025-08-19T13:07:38+02:00
https://correctiv.org/faktencheck/hintergrund/2025/08/14/zdf-sommerinterview-aussagen-von-tino-chrupalla-im-faktencheck/
Sommerinterview mit Bärbel Bas: Wird Bürgergeld weitergezahlt, wenn jemand unbekannt verzieht?
Im Sommerinterview mit Bärbel Bas ging es zumeist um ihre Pläne für die Rente und das Bürgergeld. Dabei unterlief der Ministerin zumindest eine Ungenauigkeit beim Thema Sanktionen. Auch eine Behauptung zu der Anzahl Geiseln, die die Hamas noch gefangen hält, ist nicht korrekt. von Steffen Kutzner Am 10. August fand das ARD–Sommerinterview mit Bärbel Bas statt. Bas ist Bundesministerin für Arbeit und Soziales und seit dem Juni 2025 gemeinsam mit Lars Klingbeil Vorsitzende der SPD. In dem halbstündigen Interview äußerte sie sich zu verschiedenen Themen und sprach über ihre Pläne für die Rente. Überprüfbare Tatsachenbehauptungen nahmen im Interview weniger Raum ein als in anderen Sommerinterviews, die wir uns angeschaut haben. Dennoch lassen sich einige der Aussagen von Bas überprüfen. Manche halten einem Faktencheck stand, andere nicht. Darunter eine Aussage zu Sanktionen beim Bürgergeld und der Situation im Gaza-Streifen. Ab Minute 14:38 befragt der Interviewer Matthias Deiß Bas zu ihren Plänen, was Sanktionen beim Bürgergeld angeht. Bas antwortet zunächst mit einer Anekdote: Bei ihren Aufenthalten in Nordrhein-Westfalen habe sie viel mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Jobcenter gesprochen. Diese hätten ihr gesagt, so fasst Bas zusammen: „Wenn ich doch einen Termin zu jemandem schicke und da kommt der Brief zurück, unbekannt verzogen, dann muss ich doch das Instrument haben, die Leistungen sofort einstellen zu können.“ Bas ordnet das mit Blick auf die Pläne der Koalition aus SPD und CDU ein und sagt: „Das sind so Instrumente, wo wir uns einig sind, wo wir sagen: Da müssen wir stärker rein“, und legt so nahe, dass das Bürgergeld aus diesem Grund bisher nicht gestrichen werden könne. Wenig später sagt sie „Diese Instrumente, die gibt es zum Teil schon, die wollen wir aber nochmal verstärken, [damit] mehr Verpflichtung reinkommt.“ Richtig ist, dass das Jobcenter Leistungen einstellen kann, wenn eine Person nicht erreichbar ist oder unbekannt verzieht, wie wir hier schon 2024 recherchiert haben. Das bestätigte uns auch die Pressestelle der Bundesagentur für Arbeit auf Anfrage. „Die Leistungen werden ab Beginn der Kenntnisnahme der Nichterreichbarkeit aufgehoben“. Das ist auch nicht unbedingt an einen Umzug geknüpft, sondern gilt allgemein, wenn eine Person nicht erreichbar ist. So steht es auch im Sozialgesetzbuch und der sogenannten Erreichbarkeits-Verordnung. Selbst Urlaube müssen angekündigt werden. Gegen Ende des Interviews (ab Minute 21:12) befragt Interviewer Deiß Bärbel Bas auch zum Thema Gaza und der Entscheidung der Bundesregierung, „bis auf Weiteres keine Ausfuhren von Rüstungsgütern, die im Gazastreifen zum Einsatz kommen können“ mehr zu genehmigen. In diesem Zusammenhang verweist Bas darauf, dass Israel von „Ländern und Regimen, die den Staat Israel auslöschen wollen“ umgeben sei und auch auf den Hunger im Gazastreifen. Sie sagt auch, es seien immer noch „hunderte“ Geiseln „nicht frei“. Das ist falsch. Laut dem israelischen Außenministerium hielt die Hamas zum Zeitpunkt des Interviews 49 Geiseln, die am 7. Oktober 2023 verschleppt wurden, gefangen. Bei dem Angriff nahm die Terrororganisation etwa 250 Menschen als Geiseln, die Mehrheit von ihnen ist laut Medienberichten vermutlich tot. Auf eine Nachfrage danach, woher Bas die Angabe bezogen hat, antwortete die Pressestelle der SPD: „Hunderte Geiseln sind es mittlerweile nicht mehr. Das war eine Ungenauigkeit.“ Zu der Frage nach den angeblichen fehlenden Bürgergeldregelungen, schickte die Pressestelle keine inhaltliche Antwort. Weitere Faktenchecks zu den Sommerinterviews 2025 finden Sie hier, hier, hier, hier und hier. Mitarbeit: Matthias Bau Redigatur: Matthias Bau, Gabriele Scherndl
Steffen Kutzner
Wer umzieht, ohne dem Jobcenter zu sagen, wohin, verliert seinen Bürgergeldanspruch. Oder? Bärbel Bas implizierte im Sommerinterview das Gegenteil.
[ "Faktencheck", "Politik" ]
Politik
2025-08-12T18:01:47+02:00
2025-08-12T18:01:47+02:00
2025-08-29T12:37:36+02:00
https://correctiv.org/faktencheck/2025/08/12/sommerinterview-mit-baerbel-bas-wird-buergergeld-weitergezahlt-wenn-jemand-unbekannt-verzieht/
Bekannter Telegram-Account verbreitet erfundenes Zitat von Lars Klingbeil über deutsche Rentner
Ein bekannter Verbreiter von Fake-Zitaten behauptet, Lars Klingbeil habe gesagt, er würde sich für die deutschen Rentner schämen, weil sie so faul seien. Das Zitat ist frei erfunden und der Kanal hat Verbindungen zur russischen Propaganda. von Sara Pichireddu „Just in“ – Wieder einmal beginnt ein Beitrag im Telegram-Kanal „UNN – Unabhängig Neutrale Nachrichten“ mit diesen Worten und wieder einmal folgt darauf ein erfundenes Zitat eines deutschen Politikers. In dem Beitrag vom 25. Juli geht es diesmal um Finanzminister Lars Klingbeil: Er soll gesagt haben, dass er sich für deutsche Rentnerinnen und Rentner schäme. Diese seien die faulsten Menschen in Deutschland. Dass das Zitat falsch ist, bestätigt uns das Finanzministerium auf Anfrage: „Wir können ausschließen, dass Minister Klingbeil sich so geäußert hat“, schreibt ein Sprecher. Auch Recherchen über Suchmaschinen und in der Pressedatenbank „Genios“ lieferten keine Hinweise darauf, dass Klingbeil sich so geäußert hat. Erfundene oder verzerrte Zitate begegnen uns in sozialen Netzwerken immer wieder. In diesem Hintergrund erklären wir, wie Sie solche Zitate überprüfen und sich vor Irreführungen schützen können. Klingbeils SPD-Fraktion im Bundestag selbst zitiert im April auf Facebook deutlich andere Worte ihres Vorsitzenden: „Wer gebuckelt hat – in der Pflege, als Erzieherin, auf dem Bau oder an der Supermarktkasse – soll eine auskömmliche Rente haben. Das ist eine entscheidende Gerechtigkeitsfrage und kein Wahlgeschenk.“ Mehrere Medien griffen dieses Zitat des SPD-Vorsitzenden auf. Auch im Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD steht ausdrücklich: „Statt einer weiteren Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters wollen wir mehr Flexibilität beim Übergang vom Beruf in die Rente. Dabei setzen wir auf Freiwilligkeit.“ Das Arbeiten im Alter wolle man mit einer „Aktivrente“ attraktiv machen, bei der bis zu 2.000 Euro des Gehalts im Monat nicht versteuert werden müssen. UNNs gefälschten Zitate erreichen mitunter tausende Menschen. Beim gefälschten Klingbeil-Zitat zweifeln manche Nutzerinnen und Nutzer dessen Authentizität an. In anderen Fällen gelingt es jedoch, damit zu emotionalisieren: Unter einem X-Beitrag, der das falsche Klingbeil-Zitat verbreitet (ohne die Quelle zu nennen), reagieren Nutzerinnen und Nutzer empört. „Selber nix auf die Kette gebracht […] und dann sein Maul weit aufreißen“ schreibt ein Nutzer etwa. In einem anderen Kommentar steht: „Ich würde ihn sehr gerne mal treffen und mit ihm sprechen. Dieses Bürschchen braucht mal eine Kopfwäsche.“ In anderen Fällen sind die Reaktionen auf UNN-Beiträge noch drastischer. Im März 2025, als der Kanal ein ebenfalls erfundenes Zitat von Mario Voigt veröffentlichte – auch er sollte von „arbeitsunwilligen Rentnern“ gesprochen haben – dokumentierten wir Reaktionen von Rücktrittsforderungen, bis Gewalt- und Mordfantasien. Voigt und Klingbeil sind nicht die einzigen, denen UNN Worte in den Mund legt: Im Juni hat CORRECTIV.Faktencheck bereits Beiträge überprüft, die behaupteten, Friedrich Merz wolle Deutsche dazu verpflichten, ihren Wohnraum mit Geflüchteten zu teilen. Das Zitat war erfunden. Kurz nach der Bundestagswahl im Februar veröffentlichte UNN außerdem einen angeblichen Brief eines Wahlhelfers aus Düsseldorf. Auch dieser stellte sich als falsch heraus. Hinter dem Kanal steht laut Impressum ein Mann namens Christopher Wolf, der sich selbst auf seinem Youtube-Kanal als „Unternehmer, Investor und Auswanderer“ beschreibt. Er veröffentlicht auf seinen Plattformen neben eigenen Fakes auch Propagandainhalte von bekannten Akteurinnen und Akteuren, darunter etwa Alina Lipp und Thomas Röper. Außerdem bewirbt er Kryptowährungs-Kurse, zweifelhafte Medizinprodukte und Nahrungsergänzungsmittel. Regelmäßig prahlt Wolf in Sprachnachrichten mit angeblich guten Verbindungen nach Russland. Im Sommer 2023 veröffentlichte der Kanal zwischenzeitlich Inhalte von der „RIA Nowosti Deutschland GmbH“ – sie wird in den Beiträgen sogar als Autor angegeben. RIA Nowosti ist eine russische Nachrichtenagentur, die im Frühjahr 2024 von der EU sanktioniert wurde. Auf unsere Anfrage an Wolf, ob er für die Verbreitung russischer Propaganda bezahlt wird, und von welcher Natur seine Verbindungen zum russischen Staatsapparat sind, erhielten wir keine Antwort. Redigatur: Matthias Bau, Gabriele Scherndl
Sara Pichireddu
Der Finanzminister soll deutsche Rentnerinnen und Rentner als die „faulsten Menschen“ des Landes bezeichnet haben. Das stimmt nicht.
[ "Faktencheck", "Politik" ]
Politik
2025-08-12T15:18:37+02:00
2025-08-12T15:18:37+02:00
2025-08-29T12:37:51+02:00
Finanzminister Lars Klingbeil habe behauptet, er schäme sich für deutsche Rentnerinnen und Rentner, weil sie die faulsten Menschen des Landes seien.
Telegram-Kanal „UNN – Unabhängig Neutrale Nachrichten“
2025-07-25 00:00:00
https://www.google.com/url?q=https://t.me/unabhaengig_neutral/21403&sa=D&source=docs&ust=1755005766187343&usg=AOvVaw3HurAdv1eXqFIdqeUlz7VO
Falsch
Falsch. Das Zitat ist erfunden. Es scheint nirgendwo sonst aufzutauchen und das Finanzministerium dementiert, dass es gefallen sei.
https://correctiv.org/faktencheck/2025/08/12/bekannter-telegram-account-unn-verbreitet-erfundenes-zitat-von-lars-klingbeil-ueber-deutsche-rentner/
Sommerinterview mit Felix Banaszak: Aussage zu Familiennachzug im Faktencheck
Am 3. August war der Bundesvorsitzende der Grünen, Felix Banaszak, zu Gast bei der ARD für ein Sommerinterview. Die meisten seiner Aussagen lassen sich mit Fakten belegen. Eine seiner Behauptungen zum subsidiären Schutz von Geflüchteten war ungenau und benötigt weiteren Kontext. von Sara Pichireddu Im Sommerinterview stellte sich Felix Banaszak, Bundesvorsitzender der Grünen, am 3. August den Fragen der ARD. Es ging unter anderem um die Stromsteuer, die Deutsche Bahn und die Migrationspolitik der aktuellen Bundesregierung. Die meisten seiner Aussagen lassen sich durch Fakten belegen, beim Thema Familiennachzug und subsidiärer Schutz war Banaszak jedoch ungenau. Wir ordnen seine Behauptung ein und geben wichtigen Kontext. „Es wurde immer wieder gesagt, wir müssen die ‚irreguläre Migration‘ begrenzen […]. Das erste, was dieser Bundesregierung einfällt, ist, den Familiennachzug auszusetzen. Das heißt dafür zu sorgen, dass alleinstehende Männer aus Bürgerkriegsländern, denn das sind die, die man als subsidiär schutzbedürftig bezeichnet, unter sich bleiben. Und ihre Frauen und Kinder werden wieder auf Schleuserboote gezwungen. 80 Prozent beim Familiennachzug sind Frauen und Kinder.“ Im Laufe des Interviews mit Banaszak befragt der Journalist Matthias Deiß den Parteivorsitzenden unter anderem zum Thema Migration. Banaszak habe Abschiebungen nach Afghanistan als Symbolpolitik kritisiert, doch auch die alte Regierung habe unter Beteiligung der Grünen solche Abschiebungen durchgeführt, so Deiß. Er will von Banaszak daher wissen, ob eine Regierung mit Beteiligung der Grünen so etwas heute nicht mehr tun würde. Banaszak sagt daraufhin, die aktuelle Migrationspolitik von CDU und SPD sei „irrational“ und führt dafür zwei Gründe an. Zum einen habe die Koalition den Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte ausgesetzt. Damit bezeichne man „alleinstehende Männer aus Bürgergkriegsländern“. Das sorge aber zum anderen dafür, dass nun Frauen und Kinder „auf Schleuserboote“ gezwungen würden. Denn über den Familiennachzug für subsidiär Schutzbedürftige kämen zu 80 Prozent Frauen und Kinder nach Deutschland. Banaszaks erste Aussage ist ungenau, für die zweite konnten wir keine Statistik finden, die seine Behauptung stützt: Sie ist unbelegt. Subsidiären Schutz können in Deutschland alle Menschen, nicht nur Männer, bekommen, denen zwar kein Asyl gewährt wird, denen aber in ihrem Herkunftsland schwere Menschenrechtsverletzungen wie Folter drohen, oder deren Leben bedroht ist. Laut dem Statistischen Bundesamt lebten zum Stichtag 31. Dezember 2024 insgesamt etwas mehr als 381.000 Menschen mit diesem Schutzstatus in Deutschland: Knapp zwei Drittel von ihnen sind männlich. Banaszak drückt sich also ungenau aus, wenn er pauschal behauptet, dass junge Männer diejenigen sind, „die man als subsidiär schutzbedürftig bezeichnet“. Auf Nachfrage bestätigte ein Sprecher der Grünen, dass sich der Bundesvorsitzende auf die gleichen Zahlen bezog: „Diese Zahlen untermauern die Aussage, dass diese Schutzform überwiegend von ‚alleinstehenden‘ Männern in Anspruch genommen wird“, so der Sprecher. Weil Bürgerkrieg eine besonders bedrohliche Lage für das Leben darstellt, kann denjenigen, die davor flüchten, subsidiärer Schutz gewährt werden. In Deutschland haben diesen Schutzstatus vor allem Menschen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Partei Die Linke vom 14. Mai 2025 hervor. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gibt in seinem Papier „Das Bundesamt in Zahlen“ (PDF, Download) an, im Jahr 2024 in 75.092 Fällen subsidiären Schutz gewährt zu haben. Die Menschen, deren Anträge positiv beschieden wurden, kamen zu 75 Prozent aus Syrien. Wie viele davon Männer waren, ist nicht eindeutig. Aus einer weiteren Statistik geht jedoch hervor, dass mit Blick auf alle gestellten Anträge, darunter auch Anträge auf Asyl oder den Status als UN-Flüchtling, 72,5 Prozent der Antragstellenden aus Syrien Männer waren. Für diese Menschen hat der Bundestag am 27. Juni 2025 den Familiennachzug für zwei Jahre ausgesetzt. Dafür stimmten mehrheitlich CDU/CSU, SPD und AfD. Seit Jahren ist der Familiennachzug ein Streitpunkt. Zuvor war er auf 1.000 Menschen pro Monat begrenzt, von März 2016 bis Juli 2018 war er schon einmal ausgesetzt worden. Betroffen sind dabei immer die Familien der subsidiär Schutzberechtigten. Asylberechtigte und anerkannte Geflüchtete dürfen weiterhin ihre Familien nach Deutschland holen, darauf haben sie gesetzlich Anspruch; subsidiär Schutzberechtigte haben diesen Anspruch dagegen nicht. Für subsidiär Schutzberechtigte gilt nach dem Beschluss des Bundestages, dass sie nur noch in Härtefällen Familienangehörige nach Deutschland holen dürfen. Was das genau heißt, wird in der Gesetzesänderung nicht weiter erläutert. Laut Medienberichten sagte Innenminister Alexander Dobrindt, dass das zum Beispiel Situationen seien könnten, in denen Familienangehörige „dringende medizinische Versorgung brauchen, die ihnen in ihrem Heimatland nicht gewährt werden kann“. Wer sind die Menschen, die bisher über den Familiennachzug nach Deutschland kamen? Sind es tatsächlich zu 80 Prozent Frauen und Kinder, wie Banaszak behauptet? Das ist nicht eindeutig zu sagen, denn die statistische Erfassung unterscheidet nicht nach der Schutzform, wegen derer Menschen nach Deutschland kommen dürfen. Aus dem Auswärtigen Amt hieß es dazu auf unsere Anfrage: „Ein Visum zum Familiennachzug – unabhängig vom Aufenthaltsstatus der Person in Deutschland – wird statistisch als Familiennachzug erfasst. Die statistische Erfassung erfolgt entlang der Rechtsgrundlage des Visums, nicht entlang des Status der Person in Deutschland.“ Das heißt aber nicht, dass diese Menschen in keiner Statistik auftauchen. Wie der Mediendienst Integration berichtet, wurden im Jahr 2024 rund 12.000 Visa zum Familiennachzug für Menschen unter subsidiären Schutz erteilt. Zahlen zu allen erteilten Visa veröffentlicht das Auswärtige Amt auf seiner Homepage, schlüsselt diese jedoch nicht nach erteilen Schutzformen, sondern zum Beispiel nach „Ehegattennachzug“, „Elternnachzug“, „Kindernachzug“ und „Sonstiger Familiennachzug“ auf. Nach Geschlechtern differenziert diese Statistik auch nicht: Das Auswärtige Amt bestätigte uns auf Nachfrage, dass bei vergebenen Visa Geschlechter gar nicht statistisch erfasst werden. Ein Grünen-Sprecher verweist uns auf Anfrage auf den Migrationsbericht der Bundesregierung von 2023. In dem Bericht werden Daten zu den Menschen ausgewertet, die 2023 im Rahmen des Familiennachzugs nach Deutschland kamen. Daten zum subsidiären Schutz werden darin nicht explizit ausgewiesen. Mit Blick auf die Gesamtzahlen heißt es in dem Bericht, dass etwa 55 Prozent ein Visum als Ehepartner oder -partnerin erhielten, etwa 33 Prozent der Visa gingen an Kinder. Die Pressestelle der Partei bezeichnet Banaszaks Behauptung als „konservative, realistische Näherung“. Ist die Aussage tatsächlich realistisch? Um uns der Antwort anzunähern, haben wir uns die Visa-Zahlen für die drei Haupt-Herkunftsländer für subsidiär Schutzberechtigte angeschaut: Syrien, Afghanistan und Irak. 2024 erhielten insgesamt etwa 15.800 Menschen aus diesen Ländern ein Visum zum Familiennachzug. Wichtig dabei: Nicht jeder Syrer oder jede Syrerin in Deutschland ist subsidiär Schutzberechtigt, einige haben Flüchtlings- oder Asylstatus. Außerdem können auch etwa Syrerinnen, die mit einem oder einer Deutschen verheiratet sind, bei der deutschen Botschaft in ihrem Heimatland ein Visum zum Ehegattennachzug beantragen. Das machten im ersten Halbjahr 2024 allein 1380 Personen. Für das ganze Jahr 2024 gilt: 53 Prozent der Visa erhielten Eheleute, zehn Prozent Eltern. 3631 Kinder durften aus Syrien nach Deutschland einreisen. Das sind allein 37 Prozent der ausgestellten Visa für das Land. Angesichts der Geschlechterverteilung unter den syrischen Menschen, die in Deutschland subsidiären Schutz bekommen (75 Prozent sind männlich) liegt es nahe, dass ein Großteil der 5260 Ehegatten-Visa Frauen erteilt wurden. Mit dieser spekulativen Rechnung und der Zahl der Kinder-Visa erscheint Banaszaks Aussage, es würden zu 80 Prozent Frauen und Kinder über den Familiennachzug nach Deutschland kommen zwar möglich – klare Belege gibt es dafür aber nicht. Weitere Faktenchecks zu den Sommerinterviews 2025 finden Sie hier, hier, hier und hier. Korrektur, 20. August 2025: Wir haben im Text eine Angabe korrigiert. Rund 12.000 Visa zum Familiennachzug für Menschen unter subsidiärem Schutz wurden nicht im ersten Halbjahr 2025, sondern im gesamten Jahr 2024 vergeben. Mitarbeit: Matthias Bau Redigatur: Matthias Bau, Steffen Kutzner
Sara Pichireddu
Am 3. August war Felix Banaszak von den Grünen im Sommerinterview der ARD. Eine Aussage von ihm zum Thema Familiennachzug ist unbelegt.
[ "Hintergrund", "Politik" ]
2025-08-08T12:44:12+02:00
2025-08-08T12:44:12+02:00
2025-08-21T12:31:51+02:00
https://correctiv.org/faktencheck/hintergrund/2025/08/08/sommerinterview-mit-felix-banaszak-aussage-zu-familiennachzug-im-faktencheck/
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